Wachkoma
Bett im Zimmer ihrer Tochter.
„Wo ist die ältere Dame, die gestern noch in dem dritten Bett lag?“, fragte Beatas Mutter die Krankenschwester, die soeben ihre Schicht begonnen hatte.
„Ist wieder frei geworden“, bekam sie als Antwort. Und nur noch der Teebecher auf dem Nachttisch verriet, dass dort kürzlich jemand gelegen haben musste.
„Die alte Frau hat es leider nicht geschafft“, legte dieKrankenschwester schnell nach, als sie die Sprachlosigkeit der Mutter spürte. „Sie war zwar noch nicht sehr alt, obwohl ihr Haar so schön ergraut war, wie ich es nur selten gesehen habe, doch sie war sehr depressiv und erlag wohl ihrem eigenen Kummer.“
„Wie furchtbar!“, dachte sich Beatas Mutter.
Da lag ihre Tochter nun, gemeinsam mit diesem dürren, armen Mädchen, deren große, tiefblaue Augen vom ersten Tag an wie abwesend durch sie hindurchzublicken schienen, obwohl sie geöffnet waren.
Als wäre das Mädchen tatsächlich im Geiste an zwei Orten gleichzeitig gewesen.
Und dann noch das!
Auch wenn Beatas Zustand ein besserer war – schließlich lag sie nur im künstlichen Koma und würde bald wieder aufwachen –, sorgte sie sich doch sehr. Und hielt den Anblick ihrer Tochter in diesem Umfeld kaum eine Minute länger aus.
Sie brach weinend über Beata zusammen, die aussah, als schlafe sie nur, und schluchzte so laut, als hoffte sie, sie könne Beata damit erreichen – wo auch immer sie sich im Geiste gerade befinde.
Mit dünner Stimme sprudelte es schließlich aus ihr heraus, als halte sie den Druck innerlich nicht mehr aus.
„Aber bist du nicht müde, nach diesem Wettlauf mit deinen Kollegen, Beata? Ohne im Privaten vom Fleck zu kommen? Nichts bewegt sich mehr bei dir. Kein Mann, keine Kinder. Wie eine aufgescheuchte Maus, die in einer Sackgasse um ihr Leben läuft, blickst du in eine andere Richtung, als möchtest du nicht sein, wo es dich hingetrieben hat!“
Sie strich Beata dabei fürsorglich über das Haar und ein rasender Ton erklang aus dem Apparat, der die Lebensfunktionen zu überwachen hatte; so laut wie eine tobende Sirene.
Allerdings war es nicht Beatas Apparat, sondern der der dürren Wachkomapatientin.
Eine Ärztin, die das laute Piepsen vom Flur aus gehört hatte, betrat hastig das Zimmer und unterstützte die Krankenschwester dabei, den Zustand der Wachkomapatientin zu stabilisieren, die aufgrund der Aufregung im Raum eine starke emotionale Reaktion zeigte.
Doch sie beruhigte sich sogleich wieder und das laute Piepsen hörte auf. Und die Ärztin schaute auch nach Beatas Mutter, die ebenfalls ein wenig hilflos und aufgewühlt wirkte.
Nach einer leichten Beruhigungsspritze verlief der Rest des Tages dann insgesamt unauffällig.
***
In der Nacht, als Beatas Mutter zu Hause allein in ihrem Bett lag, ließen ihre Gedanken sie nicht los.
Obgleich die Müdigkeit an ihren Nerven riss und die Erschöpfung an ihren Knochen, wollte der Geist sich nicht geschlagen geben.
Ihre Gedanken waren unentwegt bei Beata.
Sie würde als Mutter doch etwas tun müssen, um es ihrer Tochter zu erleichtern, dachte sie sich immer wieder.
Vielleicht sollte sie ihr vorlesen oder Musik vorspielen, damit sie sich nicht fürchtete, dort, wo auch immer sie war.
Da fiel ihr Beatas altes Geschichtenbuch ein, das sie als junges Mädchen selbst geschrieben hatte. Die Mutter hatte es vor ein paar Jahren in einer alten Kiste auf dem Dachboden wiederentdeckt, als sie dort alte Sachen von ihrem Mann entrümpelte.
Sie erinnerte sich noch gut, wie Beata früher alles darin festhielt, was ihr der Vater erzählt hatte, und es hütete wie einen wertvollen Schatz.
Umso mehr verwunderte es sie, dass Beata nie Anstalten machte, ihr Buch wieder an sich zu nehmen.
Doch gleich morgen früh würde sie es vom Dachboden holen und mit ins Krankenhaus nehmen. Sicherlich würde Beata das gefallen.
***
Sie kümmerte sich schließlich auch die nächsten Tage so gut sie konnte um ihre Tochter. Täglich fuhr sie zu ihr ins Krankenhaus, las ihr aus dem alten Geschichtenbuch vor, das sie zwischenzeitlich herausgesucht hatte.
Und auch die junge Wachkomapatientin hörte mit zu.
Es kostete sie immer viel Kraft, für sie beide vorzulesen, was ihr lieber Mann einst erfunden und erzählt hatte.
„Gott habe meinen Mann selig.“
In Momenten wie diesen hätte sie sich sehr gewünscht, dass er noch bei ihr gewesen wäre.
Sie streichelte Beata tröstend über den Arm, als wollte sie sich dafür entschuldigen, dass der Vater
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