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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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gibt , wovon ein englischer Gentleman etwas versteht , so ist es der Wert des Geldes . »Bitte, könnten Sie vielleicht das Licht ein bißchen aufdrehen? Ich kann nichts sehen.«
    Im Korridor reihten sich Porträts freundlicher Krieger und mörderischer Zivilisten aneinander. Der Lichtstrahl enthüllte sie nur sprunghaft, bedauerlicherweise, denn Cassidy war überzeugt, daß er in ihren mannigfaltigen Zügen Spuren seines exzentrischen Begleiters hätte identifizieren können: das strahlende unberechenbare Lächeln zum Beispiel, die von innen her leuchtenden Seeräuber-Augen, den schwarzen Haarschopf, der so stolz in die mächtige Stirn fiel. Die Lampe senkte sich, stieg anscheinend eine kurze Treppe hinab und ließ ihn aufs neue in tiefster Finsternis stehen.
    »Nimmt kein Ende«, sagte Cassidy mit nervösem Lachen, und dann: »Allein hätte ich das nie geschafft. Ehrlich gesagt, die Dunkelheit ist mir ein bißchen unheimlich, war’s schon immer. Manche Leute mögen keine großen Höhen, ich mag die Dunkelheit nicht.« Genau gesagt machte Cassidy sich auch nicht allzuviel aus großen Höhen, aber er wollte die Analogie nicht zerstören. »Sind Sie schon lange hier?« fragte er, als er keine Absolution auf seine Beichte erhielt.
    »Zehn Tage.«
    »Ich meine, Ihre Familie.«
    Der Strahl streifte einen rostigen eisernen Kleiderhaken, dann senkte er sich auf den Fußboden. »O Herrje … seit Urzeiten, Mann, seit Urzeiten.«
    »Und hat Ihnen Ihr Vater …«
    Einen peinlichen Augenblick lang fürchtete Cassidy, er habe sich wiederum auf zu dünnes Eis gewagt: ein kürzlich stattgehabter Todesfall ist schließlich kein Thema, das man im Dunkeln bespricht. Es verstrich eine ganze Weile, ehe er seine Antwort erhielt.
    »Eigentlich mein Onkel«, gestand die sanfte Stimme und gab einen kleinen vielsagenden Seufzer von sich. »Aber wir standen einander sehr nah.«
    »Mein Beileid«, murmelte Cassidy.
    »Wurde von einem Stier aufgespießt«, fuhr sein Führer in heiterem Ton fort, der das Mundartliche hervorhob. »So ging’s wenigstens schnell. Ich meine, kein langes Herumziehen mit Kamillentee und Haferschleim.«
    »Nun, wenigstens ein Trost«, sagte Cassidy. »War er schon alt?«
    »Sehr. Und ich meine, der Stier …«
    »Ja?« sagte Cassidy verwirrt.
    Die Laterne schien in einer Anwandlung plötzlichen Kummers zu zucken. »Ja, der Stier war auch schon schrecklich alt. Will sagen, es war eine Art Tod in Zeitlupe. Wenn ich so drüber nachdenke, dann frage ich mich, wie sie einander aufgegabelt haben.«
    Die Komik hatte offenbar den Sieg über das Tragische davongetragen, denn jetzt stieg ein wildes Jungenlachen zum unsichtbaren Dach empor, der Strahl pendelte fröhlich im Takt mit dem Gelächter, und eine starke Hand fiel vergnügt auf Cassidys Schulter.
    »Hören Sie, großartig, daß Sie hier sind. Großartig. Sie tun mir mächtig gut, so wahr ich hier stehe. Mensch, was hab’ ich mich gelangweilt; den Kohlmeisen John Donne vorgelesen. Stellen Sie sich vor. Ein großer Dichter, aber was für ein Publikum. Wie sie einen anschauen! Menschenskinder. Hören Sie, ich hab’ mir vorhin einen Kleinen genehmigt, es macht Ihnen hoffentlich nichts aus?«
    Zu seiner großen Verwunderung spürte Cassidy ein deutliches Kneifen an der Stelle, die vor Gericht als die Verlängerung des Rückgrats bezeichnet wird.
    »Kippen selber gern dann und wann einen, was?«
    »Allerdings.«
    »Besonders, wenn Sie einsam sind oder in einer kleinen Pechsträhne?«
    »Und auch zwischendurch, das kann ich Ihnen versprechen!«
    »Tun Sie das nicht«, sagte der Fremde kurz und in jäh umschwenkender Stimmung. »Niemals etwas versprechen.«
    Sie stiegen zwei Stufen hinab.
    »Mit wem kommt man hier schon zusammen?« fuhr er in seinem scherzenden Ton fort. »Nicht mal die verdammten Zigeuner wollen mit einem reden. Wissen Sie, zum Teufel, das ist Klassendenken, überall Klassendenken.«
    »Du liebe Zeit«, sagte Cassidy.
    Die Hand führte ihn noch immer an der Schulter. Im allgemeinen ließ Cassidy sich nicht gern anfassen, besonders nicht von Männern. Doch die Berührung störte ihn weniger, als er erwartet hätte.
    »Und die vielen Morgen Land?« fragte er. »Geben die Ihnen nicht reichlich zu tun?«
    Der Geruch nach Holzrauch, den Cassidy bislang wegen seiner ländlichen Note bewundert hatte, wurde plötzlich erstickend.
    »Ach, scheiß auf die Morgen. Wer zum Teufel will heute noch Land? Papierkrieg … Tollwut … Seuchen … amerikanische Flugplätze.

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