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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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durch den wandernden Lichtstrahl der Laterne, das Flackern des Feuerscheins und die Schwaden von Holzrauch. Die Erscheinung des Mädchens, ihr sekundenlanges Zögern, ihr doppelter Blick waren nur Streiflichter auf sein geschärftes Bewußtsein. Im nächsten Moment war sie weg, in einen weiteren Durchgang entschwunden, doch Cassidy hatte Zeit gehabt, mit der hilflosen Objektivität, die häufig eine völlig unerwartete Erfahrung begleitet, festzustellen, daß sie nicht nur schön war, sondern auch nackt. In der Tat war die Erscheinung so völlig unwahrscheinlich – zugleich vertraut und zutiefst erschreckend –, so unverträglich die Wirkung auf Cassidys strapazierte Einbildungskraft, daß er sie einfach abgeschrieben hätte – sie sofort seiner stets einsatzbereiten Zweifelverarbeitungsanlage eingefüttert –, wenn nicht der Strahl der Laterne ihm unerbittlich den Beweis ihrer irdischen Existenz aufgedrängt hätte.
    Sie war auf Zehenspitzen gegangen. Sie mußte das Barfußgehen gewohnt sein, denn jeder Zehenabdruck zeichnete sich in einem eigenen runden Fleck auf den Quadern ab, wie die Fußspur eines kleinen Tieres im Schnee.

3
    Vor langer Zeit hatte in einem großen Restaurant eine ältere Dame Cassidys Fisch gestohlen. Sie hatte neben ihm an einem angrenzenden Tisch gesessen, mit dem Gesicht zum Lokal, und sie hatte mit einer einzigen Bewegung den Fisch – Seezunge ›Walewska‹, reichlich mit Käse und allerlei Meeresgetier garniert – in ihren offenen Beutel befördert. Der Zeitpunkt war tadellos berechnet. Cassidy blickte gerade auf, einem inneren Anruf folgend – ein Mädchen wahrscheinlich, vielleicht aber auch ein Gericht, das vorbeigetragen wurde und das er beinah an Stelle der Walewska gewählt hätte –, und als er wieder auf den Tisch blickte, war der Fisch verschwunden, und nur eine rosafarbene Fährte quer über seinen Teller, eine Schneckenspur aus Maismehl, Käse und Garnelenpartikel, bezeichnete die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Er hatte den Fisch gegessen und in seiner Zerstreutheit nichts geschmeckt. Aber wie hatte er ihn gegessen? fragte sich der Meisterdetektiv. Mit den Fingern? Messer und Gabel waren unbenutzt. Der Fisch war eine Fata Morgana gewesen: Der Kellner hatte ihn noch nicht gebracht, Cassidy starrte auf den schmutzigen Teller, den der letzte Gast vor ihm zurückgelassen hatte.
    Dann sah er die Beuteltasche. Ihre Henkel waren fest aneinandergepreßt, doch ein verräterischer rosa Klecks war an der einen Messingkugel des Verschlusses deutlich zu sehen. Den Kellner rufen, dachte er: ›Diese Dame hat meinen Fisch gestohlen.‹ Die Diebin stellen, die Polizei holen, verlangen, daß sie die Tasche öffne.
    Aber die Haltung altjüngferlicher Artigkeit, mit der sie an ihrem Aperitif nippte, eine Hand leicht in die Serviette geschmiegt, überwältigte ihn. Er unterschrieb die Rechnung und verließ still das Restaurant, um nie wieder hinzugehen.
     
    Als Cassidy der Laterne in den raucherfüllten Salon folgte, zeigte er die gleichen Symptome psychischer Lähmung. Hatte das Mädchen wirklich existiert oder war sie eine Ausgeburt seiner lebhaften erotischen Fantasie? War sie ein Gespenst? Eine de Waldeberesche Erbin zum Beispiel, im Bade ermordet von dem ruchlosen Sir Hugo? Aber Familiengespenster hinterlassen weder Fußabdrücke noch tragen sie Transistorradios herum, und ganz gewiß sind sie nicht aus so eminent verführerischem Fleisch gestaltet. Angenommen also, das Mädchen war echt, und er hatte sie gesehen, gebot ihm dann der Anstand, daß er irgendeine beiläufige Bemerkung machte, aus der hervorginge, er hätte sie nicht gesehen? Durchblicken lassen, daß er genau im kritischen Augenblick ihres Erscheinens ein Porträt oder ein architektonisches Detail studiert habe? Seinen Gastgeber fragen, ob er ganz allein hier wohne oder wer ihm den Haushalt führe?
    Er schlug sich immer noch mit diesem Problem herum, als er hörte, wie er in einer ihm fremden Sprache angeredet wurde.
    »Alk?«
    Was für Cassidy den Zustand des Unwirklichen noch weiter komplizierte, war sein Eindruck, er sei durch Nebel von seiner Umwelt abgeschnitten, denn der riesige Kamin spie Wogen von Pulverdampf über den Steinboden, und von den Deckenbalken hingen bereits schwere Bahnen, Eben dieses Feuer, das ausschließlich aus Kienspänen zu bestehen schien, war auch die einzige Lichtquelle, denn die Laterne war nun gelöscht, und die Fenster waren wie in der großen Halle dicht verschlossen.
    »Tut mir

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