Wachsam
Bächen, während Kinder in Nationaltracht uralte Weisen zum Lob von Reinheit und Rindvieh singen. Der Frühling ist eine jähe und köstliche Jahreszeit, ungeduldige Blumen brechen durch die zähe Schneedecke; während der Herbst, mit den ersten Schneefällen, zwischen dem Getöse zweier hektischer Saisons vergessene Stunden atemloser Kirchenstille zurückbringt.
Doch es gibt, wie jeder Alpengast wissen muß, auch Tage, an denen das gefällige Muster ohne ersichtlichen Grund heftig erschüttert wird; an denen die Jahreszeiten, als wären sie plötzlich ihres Platzes im Kreislauf der Natur müde, alle Waffen ihres Arsenals ins Treffen führen und eine wütende Schlacht liefern, bis zur eigenen Erschöpfung. Statt des Winterzaubers herrschen verdrossener Regen und mürrische Nachtkälte im Dorf, Donner wechselt mit matschigem Graupeln, und weder Stern noch Sonne vermag durch die wirbelnden Wolkenschwaden zu dringen. Schlimmer noch, ein Föhn kann aufkommen, jener morbide Südwind, der die Berge heimsucht wie eine Pest, gewaltige Schneebretter ablöst und die Gemüter sowohl der Dorfbewohner wie ihre Gäste vergiftet. Und wenn er sich schließlich verzieht, so liegen die braunen Flecken an den Hängen wie Tote da, der Himmel ist weiß und leer, und die Vögel sind verschwunden. Dieser Föhn ist der Fluch der Berge; kein Ort ist vor ihm sicher.
Die ersten Anzeichen sind äußerer Art: ein Wassertröpfeln, das keine Quelle hat, ein geheimnisvolles Entweichen von Luft und Farbe. Mit dieser Entleerung der Atmosphäre geht eine allmähliche Erschöpfung der menschlichen Energie einher, ein Gefühl moralischer Flauheit, eine Art seelischer Verstopfung, die sich Schritt für Schritt über die ganze psychische Person ausbreitet, bis sie sämtliche Ausgänge blockiert hat. An solchen Tagen vor dem Sturm kann es vorkommen, daß ein Mann irgendwo auf der Dorfstraße eine Zigarre raucht und ihre Spur anderntags noch vorhanden ist, der Rauch und der Geruch sind genau an der Stelle stehengeblieben, an der er stand. Manchmal kommt überhaupt kein Sturm. Die Flaute endet, und die Kälte kehrt zurück. Oder ein Orkan bricht aus: eine schwarze tobende Walpurgisnacht mit Winden von sechzig bis siebzig Meilen pro Stunde. Die Hauptstraße ist übersät mit abgebrochenen Ästen, der Makadam schaut durch den Schnee, und man könnte glauben, im Dunkeln sei ein Fluß hindurchgebraust auf seinem Weg von den Gipfeln ins Tal. Und jetzt herrschte der Föhn.
Der Tag erinnerte ihn an einen feuchten Tag in Lord’s Cricket Ground . Die beiden Gepäckträger des Dorfes standen wie Schiedsrichter nebeneinander, preßten die Kittel an die Bäuche und fanden übereinstimmend, daß es unmöglich sei. Über ihm, aber sehr nah, hingen die erhabenen Zwillingsgipfel des Angelhorns wie schmutzige Wäsche vom grauen Himmel. Der Schnee war größtenteils verschwunden. Die Uhr zeigte fünfzehn, doch sie konnte schon vor Jahren stehengeblieben sein. Als er sich zum Restaurant begab, dachte er: So werden wir sterben , allein und kalt und außer Atem , schwebend zwischen weißen Welten .
»Hallo Lover«, sagte Shamus seelenruhig. »Wir suchen wohl jemanden, wie?«
»Hallo«, sagte Cassidy.
35
Holzrauch aus Haverdown lag in der dumpfen Luft, aus den braunen Wänden ragten Hirschgeweihe. Eine Gruppe dunkelgesichtiger Arbeiter saß beim Bier. Ein Stück weg saß an ihrem traurigen Katzentisch die Kellnerin, las in deutschen Illustrierten und keuchte leise vom Föhn wie Patienten im Wartezimmer eines Arztes.
Er saß nah an der Theke in einem Alkoven, ganz allein an einem großen runden Tisch, unter den gekreuzten Flinten des Jagdvereins von Sainte-Angèle. Eine seidene Fahne, von den Damen der Gemeinde gestickt, bekundete die Treue des Dorfes zu Wilhelm Tell. Der Alkoven lag gemütlich und vertrauenerweckend in flämischem Dunkel; die Pokale glänzten anheimelnd wie wohlverdiente Münze. Er trank café crême , und er war dünner geworden. Ein Streifen weißen Lichts vom Fenster lief den Leichenfrack entlang, wie von einem kürzlichen Schock. Er trug weder Hut noch Bart; sein Gesicht wirkte entblößt und verwundbar und sehr blaß. Cassidy glitt neben ihn, er hielt seine Reisetasche in den Armen wie Hugos Strandkrokodil, ließ sie dann die polierte Bank entlangschlittern und schließlich mit einem schlaffen Plumps zwischen ihnen auf den Boden fallen.
Als er sich setzte, sah er das Schießeisen.
Es lag auf Shamus’ Knien wie ein glattes Schoßtier, der
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