Wachsam
«
Zu Kurt gegangen? Oder doch bei Angie geblieben? Sicher war, daß er eine Schlaffheit in den Lenden spürte, ein Gefühl von nachher , nicht vorher . Hatte er demnach doch noch die höchst fachmännischen Umarmungen von Miß Mawdray genossen, der bekannten Chefsekretärin, während Meales um Verzeihung heischendes Auge sich taktvoll abwendete, solange der Herr Vorsitzende verweilte? Sie sind immer so gut zu uns , Mister Aldo , wir wissen wirklich nicht , wie wir Ihnen danken sollen .
Nicht der Rede wert , sagte der alte Lebemann, der bequem zwischen den betauten Falten nistet. Man muß euch jungen Leuten beim Start ins Leben behilflich sein .
Ein Heulen der Lokomotive. Tagt es bald? Nicht in Kurts grauen unbequemen Räumen; sogar die Fenster sind gegen die Sonne rauchverhangen.
»Kurt, ich brauche ein Bett.«
Kurt hatte niemand in seiner Wohnung, nicht Angie Mawdray, nicht Lemming, nicht Snaps, nicht Blue, nicht Faulk, nicht einmal Meale. Er trug einen grauen Schweizer Morgenrock aus bester Schweizer Seide, und als Cassidy unsicher in dem stets aufnahmebereiten Gästezimmer verpackt lag, kam Kurt mit einer hohen weißen Tasse Schweizer Ovomaltine zu ihm.
»Nein, Kurt.«
»Aber Cassidy, lieber Junge, Sie wissen, daß Sie einer der unsrigen sind. Hören Sie. Erstens , Sie ziehen die Gesellschaft von Männern vor, stimmt’s?«
»Stimmt, aber –.«
» Zweitens , Ihre physischen Begegnungen mit Frauen verlaufen gänzlich unbefriedigend. Cassidy, hören Sie, ich meine, lieber Gott, ich sehe es Ihnen an . Ich sehe es Ihren Augen an, jeder sieht es. Drittens –.«
»Kurt, ehrlich, ich würde es tun, wenn ich es wollte, Ehrenwort, ich schäme mich nicht mehr. Ich wollte es in der Schule, aber das kam nur daher, daß keine Mädchen da waren. Es ist die Wahrheit. Ich habe zuviel Sinn für Humor, Kurt, ich stelle mir vor, wie Sie daliegen, mit nichts an, und ihn halten, und ich kriege das Kichern. Ich meine, wozu … verstehen Sie, was ich sagen will?«
»Gute Nacht, Cassidy.«
»Gute Nacht, Kurt. Und vielen Dank.«
»Und hören Sie, eines Tages besteigen wir den Eiger, ja?«
»Ja.«
Beim Eindösen hoffte er, Kurt werde zurückkommen: Erschöpfung untergräbt den moralischen Willen genauso wie den Sinn für Humor. Aber Kurt kam nicht zurück; und so lauschte Cassidy statt dessen auf den Verkehr draußen und fragte sich: Schläft er oder träumt er von mir?
Tageslicht, und ein weiterer Warnschrei aus der kleinen unverwüstlichen Lokomotive. Der Zug stockt. Die Türen zischen und schwingen auf. Der Schaffner ruft Sainte-Angèle.
Er rief es im patois , es hätte Michelangelo heißen können oder England. Er rief es laut, übertönte das Dreiklanggebimmel der Bergglocke; er jubilierte es für das vergangene oder bevorstehende Weihnachtsfest, mit einer männlich beherrschenden Stimme, die durch den leeren Bahnhof schallte. Er rief es direkt zu Cassidy, durch das verschmierte weiße Fenster seines Erste-Klasse-Wagens; und wenn Sie noch weiter wollen, müssen Sie umsteigen. Er rief es, als wäre es Cassidys Name, sein letzter Gang und seine letzte Haltestelle. Der Schaffner war ein bärtiger Mann und trug eine Dienstmarke an seinem Kittel. Seine Augen waren von schweren schwarzen Brauen maskiert und vom schwarzen Schatten seiner schwarzen Schildmütze. Dem Rufe folgend, stand Cassidy sofort auf, trat munter auf den leeren Bahnsteig und schwang die Reisetasche in der starken Hand.
»Morgen«, sagte der Schaffner tröstend, »gibt’s viel Schnee.«
»Ah, aber morgen kommt nicht oft, nicht wahr?« erwiderte Cassidy, nie um das letzte Scherzwort verlegen.
Das Wetter, das Cassidy in Sainte-Angèle begrüßte, war wie eine meteorologische Fortsetzung der Wirrnis, die seit einiger Zeit von seinem Denken Besitz ergriffen hatte. Der beste aller denkbaren Ferienorte hat seine abartigen Jahreszeiten, und nicht einmal das wegen seines verlässigen und milden Charakters berühmte Sainte-Angèle ist von den unwandelbaren Gesetzen der Natur ausgenommen. In der Regel ist die schneebedeckte Dorfstraße im Winter ein jubelnder Karneval von Bommelmützen, Pferdeschlitten und glitzernden Schaufenstern, wo betuchte junge Schnösel aus allen Ländern sich an die Mädchen von Kensal Rise heranmachen und in den umliegenden Wäldern so mancher meineidige Liebesschwur geleistet wird. Im Sommer stapft die weniger ausgabenfreudige ältere Generation rüstig über die blühenden Hänge und erfrischt sich an Goethes brausenden
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