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Wachsam

Wachsam

Titel: Wachsam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Lauf war auf Cassidy gerichtet. Es war der Bauart nach eine Armeepistole, vermutlich ein Offiziersmodell aus dem ersten Weltkrieg. Nur ein voll ausgewachsener Offizier konnte sie getragen haben, denn der Lauf war mehr als 30 Zentimeter lang. Oder es war vielleicht eine Zielpistole aus jenen Tagen, als man die Waffe auf den linken Vorderarm stützte und der Feldwebel »Guter Schuß, Sir« brüllte, wenn man ein mannsgroßes Ziel traf. Am Kolben war eine Schlaufe befestigt. Daran baumelte eine rosa Puderquaste.
    In der Küche sendete der Rundspruch ein schweizerisches Pausenzeichen, ein sehr kriegerisches Signal.
     
    Cassidy bestellte Kaffee, café crême wie der Herr. Der Kellner erinnerte sich gut an ihn. Cassidy, der Trinkgeldgeber. Er brachte ein gewürfeltes Tischtuch und breitete es liebevoll aus. Er deponierte Besteck, eine Maggiflasche und Zahnstocher in einem silbernen Behälter. Und die Kinder, erkundigte der Kellner sich, geht es ihnen gut?
    Sehr gut.
    Sie litten nicht zum Beispiel an der englischen Krankheit, kurze Hosen zu tragen?
    Nicht nennenswert, sagte Cassidy. Und sie jagten jetzt wohl den Fuchs und die Gemse? Zur Zeit, sagte Cassidy, seien sie in der Schule. Ah, sagte der Kellner und schürzte die Lippen, Eton : Er habe gehört, dort sei es auch nicht mehr wie früher.
    »Sie wartet«, sagte Shamus. Sie setzten sich bergan in Marsch.
     
    Cassidy zog mit aller Kraft, und bald schnitt der Gurt in seine Schulter. Wenn er nicht seinen Kamelhaarmantel getragen hätte, würde er sich buchstäblich wundgescheuert haben. Der Gurt war aus Nylon, 1 Meter 80 lang und knallrot, er hielt ihn mit beiden Händen, eine an der Brust, die andere an der Taille, es war sein Pferdegeschirr, und er legte sich tüchtig hinein. Zweimal bat er Shamus, er möge zu Fuß gehen, erhielt jedoch keine brauchbare Antwort außer einem ungeduldigen Wedeln des Pistolenlaufes, und jetzt saß Shamus aufrecht, hatte Cassidys Reisetasche auf den Knien und warf hinaus, was ihm nicht gefiel. Die silberne Haarbürste war bereits dahin, sie war wie eine Hockeyscheibe den vereisten Pfad hinuntergeschlittert, über die halbgefrorenen Blasen aus Schnee und Eis getanzt und getrudelt. Er hatte geglaubt, fit zu sein: Squash im Lansdowne, Tennis im Queen’s, ganz zu schweigen von den Treppen in Abalone Crescent. Aber bis sie von der Bahnlinie abbogen, war sein Flanellhemd durchnäßt, und sein Herz, das an den Höhenwechsel noch nicht gewöhnt war, hämmerte bereits bedrohlich. Fitness ist relativ, dachte er. Schließlich hat er mindestens mein Gewicht.
     
    Sogar in Abwärtsrichtung war der Pfad zum Rodeln ungeeignet. Vom Chalet an wand er sich zunächst durch lichtes Gehölz, wo der Schnee kaum die Buckel bedeckte und grobzackige Baumstümpfe den unachtsamen Steuermann erwarteten. Dann kreuzte er einen Lawinengraben, führte in zwei steilen Schleifen abwärts zu einer dürftig eingezäunten schrägen Auffahrt, die, da sie zumeist von Fußgängern benutzt wurde, mit Splitt bestreut war, der an den Kufen zerrte und sie aus der Bahn drehte. Andere verwegenere Kinder mochten diesen Gefahren trotzen; nicht so die Cassidyschen, denn es war einer seiner immer wiederkehrenden Alpträume, daß ihnen hier ein Unfall zustieß, daß Hugo unter einen Zug rodelte, Mark sich an einem Telegrafenmast den Schädel einschlug, und er hatte die Route von A bis Z vorgeschrieben und strenge Strafen für jede Abweichung angedroht. Bergan war der Pfad zwar zweifellos ungefährlicher, aber noch weniger attraktiv.
    Shamus hatte Marks Schlitten gewählt, vermutlich der verrückten Gänseblümchen wegen, die an die Plastikteile geklebt waren. Es war in seiner Art ein guter Schlitten, ein Standardtyp, den ein Schweizer Geschäftspartner zur eventuellen Einführung auf dem englischen Markt geschickt hatte. Doch bald schleppte der breite Kiel schwer im Matsch, und Cassidy mußte sich weit in die Steigung vorbeugen, um genügend Zugkraft zu gewinnen. Seine Londoner Schuhe mit den Ledersohlen glitten bei jedem Schritt aus; manchmal rutschte er, wenn er sich in den Gurt legte, nach rückwärts und streifte mit den gefrorenen Fersen an die Plastikkante; sooft ihm das passierte, trieb Shamus ihn mit einem ärgerlichen Fluch weiter. Die Reisetasche war verschwunden. Sie hatte offenbar nichts enthalten, was er aufhebenswert fand, er hatte sie über Bord geworfen, um das nicht abgefederte Gewicht zu vermindern, und jetzt zielte er mit dem Schießeisen zerstreut auf alles, was sich

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