Wachstumsschmerz
Versprechen auf Besserung abzuwarten, um und kehrte zurück in ihre Wohnung.
Am nächsten Tag legte ich Rieke einen Strauß Tulpen und einen Brief mit schriftlich gestammelten verschämten Entschuldigungen vor die Tür. Ich hörte zwei Wochen nichts von ihr, bis sie plötzlich wieder vor meiner Tür stand und fragte, ob ich mit ihr Abendbrot essen wolle. Sie benutzte genau diese Worte: »Hast du Lust, mit mir Abendbrot zu essen?« Ich war zu überrascht, um zu verneinen, eigentlich weckte nichts an Rieke in mir das Bedürfnis nach Zweisamkeit, dennoch folgte ich ihr nach nebenan in ihre winzige Einzimmerwohnung. Bei Tee, Schwarzbrot und Spreewälder Senfgurken (»Stullenabendbrot«, murmelte Rieke mit dem winzigsten Lächeln der Welt) saßen wir schweigend kauend auf ihrem Bett. Mit Rieke ist Schweigen irgendwie beruhigend. Wenn sie Stille einläutet, hat der Moment nichts Steifes, Unangenehmes, sondern dann ist grad einfach Zeit für Ruhe. Anfangs wurde ich immer ganz hibbelig, wenn plötzlich nicht mehr gesprochen wurde, als sei es meine Aufgabe, die Konversation am Leben zu halten. Bis ich irgendwann verstand, dass diese Momente der Ruhe kleine Inseln der Erholung waren. Winzige Atolle, auf denen man für eine kurze Zeit Kopf und Geist ablegen durfte, ohne sich erklären zu müssen, ohne eine Bescheinigung vom Arzt vorweisen zu müssen.
Und so saßen wir, still an Teewurststullen kauend, in Riekes merkwürdiger, kleiner Welt. Auf ihrem Computermonitor lief ein irgendwie bedrückender Dokumentarfilm über Tintenfische, unterlegt mit seltsam psychedelischer Musik. »Was ist das?«, fragte ich.
»Ein Film über Tintenfische«, antwortete Rieke, nachdem sie runtergeschluckt hatte.
»Ja, das sehe ich.«
»Weshalb fragst du dann?« Riekes blasse Augen sahen mich aufmerksam an, aber ich konnte keinen Spott in ihnen sehen.
»Der Film ist irgendwie beklemmend. Die Musik macht das Ganze irgendwie … gruselig. Keine Ahnung.«
»Die Musik gehört nicht zum Film. Aber der Film ist auch ohne die Musik beklemmend.«
»Ist das eine normale Doku?«, fragte ich und kam mir schon bei der Frage dumm vor.
»Nein. Nicht so richtig. Eher Kunst. Das ist Jean Painlevés ›Science is Fiction‹. Wissenschaftlich-poetisches Kino. Nicht so leicht zu erklären.«
Sie vermittelte das Gefühl, dass es dazu nicht mehr zu sagen, demnach auch für mich nicht mehr zu fragen gab, also aßen wir beide weiter unsere Brote.
Seitdem haben wir viele Abendbrote zusammen gegessen, viele Gedanken zusammen ausgeruht und viele Nächte in Riekes winziger Wohnung verbracht. Riekes Welt – sie studiert seit viereinhalb Jahren Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften und bekommt ganz verliebte Augen, wenn sie von Rainer Werner Fassbinder, Ingmar Bergman und Susan Sontag spricht – ist meiner so fremd, dass ich nach all den Jahren manchmal immer noch nicht glauben kann, dass sie mich hereingelassen hat. Dass sie erlaubt, dass ich Heiner Müller nicht verstehe und ihre Tintenfischfilme bedrückend finde. Einmal waren wir sogar zusammen zeitgenössische Kunst ansehen. Ein Nachmittag, der mir schlechte Laune machte. All die in kalten, weiten Räumen aufgebauten minimalistischen Skulpturen und wirren Videoinstallationen haben mich traurig, sogar aggressiv gemacht. Während Rieke ganz leise und aufmerksam durch die Räume schwebte, stand ich wie eine alte Dame den Kopf schüttelnd und leise meckernd vor Monitoren, auf denen sich junge Männer in Endlosschleife mit Schuhcreme einschmierten.
Als wir später wieder vor dem Eingang standen, war ich ganz erschöpft.
»Was für anstrengender Quatsch.«
»Anstrengend ist gut«, stellte Rieke fest.
»Ist es das?«, murmelte ich in meine Zigarette. »Warum ist ein Video, in dem ein Kaktus rasiert wird, Kunst?«
»Nun, im einfachsten Fall, weil es irgendwas mit dir macht.«
»Es macht mich aggressiv. Reicht das?«
»Absolut!«
Nun sitzen wir nebeneinander auf dem Boden und sehen uns in meiner Wohnung um. Die Schabracke ist weg. Mein romantisches Stangenbett auch. Das Faszinierende an einer Großstadt ist, dass es immer jemanden gibt, der deinen ungeliebten Kram entweder gut gebrauchen kann oder verkaufen will. Der schnellste und somit einfachste Weg, noch brauchbaren Kram loszuwerden, ist, ihn auf die Straße zu stellen. Das Sofa war nach zwei Stunden verschwunden, das auseinandermontierte Bett wurde Flo und mir sogar fast aus der Hand gerissen, als wir es neben meine Haustür lehnen wollten. Flo
Weitere Kostenlose Bücher