Wachstumsschmerz
von denen merkwürdig, wenn nicht sogar egozentrisch sind, will ich nicht abstreiten, aber die meisten von ihnen verfolgen einen Traum, sie brennen. Und das ist etwas, das ich bei dir nicht spüren kann.«
» I ch brenne nicht!«
Jana scheint kurz irritiert. »Nun, das ist doch eine gute Nachricht, oder?«
»Ich meine im übertragenen Sinne. Ich brenne nicht. Für nichts. Ich bin nicht hungrig, nicht gespannt wie ein Flitzebogen, nicht total auf Zack, nicht … Mir fallen keine Metaphern mehr ein.«
Jana schnauft ins Telefon und ist immer noch irritiert. »Wo kommt das plötzlich her? Dieser Drang nach Feuer?«
»Von überall! Spürst du das denn nicht?«
»Werde mal konkreter!«
»Ach, ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass sich ohne mein Zutun plötzlich alles verwandelt. Als hätte jemand die Regeln verändert, aber mir nicht Bescheid gesagt.«
»Die Regeln wofür?«
»Für das Leben. Vielleicht für das Leben ab dreißig oder so. O Mann, ich klinge wie jemand aus ›Sex and the City‹, tut mir leid. Aber es fühlt sich plötzlich an, als gäbe es einen neuen Verhaltenskodex, den aber nur bestimmte Leute kennen. Als ich dreißig geworden bin, habt ihr alle gefragt, ob es gruselig wäre, ob es mir Angst machen würde, und ich habe nie verstanden, worauf alle hinauswollten. Als ob sich mein Leben komplett entwerten, umdrehen würde. Und jetzt, zwei Jahre später, fühle ich mich plötzlich total überfordert.«
»Aber was genau überfordert dich denn?«, fragt Jana, vorsichtig geworden.
Ich bin enttäuscht, dass sie nicht sofort versteht, was ich meine. Aber vermutlich ist sie zu jung. Jana steckt mitten in ihrer Ausbildung, sie muss noch anderthalb Jahre studieren, dann wird sie irgendwo ein Praktikum machen und genug Stunden in einem Krankenhaus arbeiten, um vielleicht mal eine eigene Praxis aufzumachen.
Jana steckt noch mittendrin im Erwachsensein-Spielen, ihre Turnschuhe sind noch nicht kaputtgetanzt. Und ihr Weg ist auch ein anderer als meiner. Bei ihr sind die Dinge noch in Bewegung, sie hat noch mindestens fünf Jahre, um festzustellen, dass sie steht. Und schlimmstenfalls nicht brennt.
Oder vielleicht brennt sie auch. Vielleicht hat sie die richtige »Was will ich mit meinem Leben machen«-Entscheidung schon mit dem Psychologiestudium getroffen. Sie hat einen Weg und ein Ziel gewählt, und auch wenn ihr somit nicht mehr die ganze Vielfalt an Möglichkeiten zu Füßen liegt, liegt da aber immer noch genug rum, um sie zu beschäftigen und augenscheinlich zufrieden zu machen.
Habe ich vielleicht einfach mein Ziel zu schnell erreicht?
»Glaubst du, dass ich mein Ziel schon zu schnell erreicht habe?«
»Lu, ich möchte dich wirklich verstehen, aber du musst aufhören, zwischen deinen Sätzen ganze Absätze für dich allein zu denken. Ich kann dir überhaupt nicht folgen!«
»O.k., anders: Was ist dein Ziel? Willst du einfach nur irgendwann mal anderen helfen? Verrückte heilen? Oder willst du eine eigene Praxis? Ein Antidepressivum erfinden, das nach dir benannt wird? Wo willst du hin?«
»Puh. Keine Ahnung. Vielleicht erst mal mein Studium schaffen?«
»Und dann?« Ich merke, dass meine Stimme einen ungeduldigen und vor allem ungerechten Ton annimmt. Ich klinge wie Papa.
»Luise, du klingst wie Papa. Was zum Teufel ist los mit dir? Geht dir der Arsch auf Grundeis wegen des Umzugs?«
Herrje, der Umzug.
D ie letzte Nacht in unseren alten Wohnungen verbringen Flo und ich getrennt. Jeder zwischen seinen eigenen, aus Umzugskartons gebauten Emo-Gebirgen. Jeder mit seinen eigenen unausgesprochenen Hoffnungen und Ängsten. Wobei ich nicht wirklich allein bin. Rieke ist da, um das Ende unserer Nachbarschaft zu zelebrieren und vermutlich auch, um mich vom Nachdenken abzuhalten. Rieke wohnt direkt neben mir, und es ist ein Wunder, dass wir überhaupt irgendwie zueinandergefunden haben, denn dieses Mädchen ist ein Geist. Ein zartes, stilles und ernstes Menschlein. So anders als ich, dass es mich manchmal schmerzt. Wir haben einander vor zwei Jahren kennengelernt, als ich an einem Mittwoch um zwei Uhr morgens zusammen mit Jana auf meinem Bett gelegen und David Bowie gehört, vor allem aber mitgesungen habe. Beim dritten Mal »China Girl« stand dieses ruhige, blasse Mädchen vor meiner Tür und sah mich einfach nur an, während ich sie, noch fiebrig vor Euphorie, fragte, ob wir zu laut wären.
»Ja. Und auch zu eintönig«, antwortete sie und drehte sich, ohne eine Antwort oder gar ein
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