Wachstumsschmerz
ändern. Ich muss da jetzt durch. Das empfinde ich als tröstlich.«
Rieke schielt mich von der Seite an und stellt fest: »Du bist im falschen Jahrzehnt geboren!«
Als ich sie frage, wie sie das meint, antwortet sie nach einer für ihre Verhältnisse kurzen Pause: »Dir scheint Sicherheit so viel mehr zu bedeuten als Freiheit. Während andere Menschen unseres Alters die Möglichkeiten, die Ungebundenheit und die Auswahl so anbeten, windest du dich in Unbehagen. Du scheinst dich viel wohler zu fühlen, wenn du dich fügen musst. Entschuldige, aber das ist sehr 1955 . Und zwar nicht auf eine coole ›Mad Men‹-Art und Weise.«
»Das sagt mir die Dame, die Eierlikör in Schokobechern zum heutigen Auszugsfest mitgebracht hat?«
»Der Eierlikör war ironisch gemeint.«
»Nee, Rieke, komm mir nicht mit Ironie. Dafür bist du zu schlau! Wir trinken Eierlikör aus Schokobechern, weil wir Eierlikör und Schokobecher lecker finden. Nicht aus Gründen der Coolness oder des Stilbruchs, sondern weil es schmeckt und einen schönen Wattekopf macht.«
Mein Wattekopf wird plötzlich ein wenig heiß, aber da muss mein stilles Nachbarsmädchen jetzt durch: »Weißt du, ich verstehe grundsätzlich, was du meinst, aber du musst zugeben, dass du dich selbst nicht besonders weit von meinem Standpunkt entfernt befindest. Du wohnst mit Anfang dreißig noch in einer Einzimmerwohnung, deren Enge du tröstlich findest. Du studierst stur dein Kunstdings, ohne nach rechts oder links zu blicken, weil dir der Ausblick Angst macht, und du magst Woody Allen lieber als die meisten echten Menschen.«
»Woody Allen
ist
echt.«
»Du weißt, worauf ich hinauswill. Ich mag die Art, wie du dein Leben lebst. Erzähl mir nur nichts von den wunderbaren Möglichkeiten, die man nutzen muss, wenn du selbst total überfordert bist. Du hast keinen Job und kaum genug Geld zum Leben und gleichzeitig riesige Angst vor dem Ende deines Studiums, weil du nicht weißt, was du dann wollen wirst. Du weißt selbst, dass die Idee einer eigenen Undergroundgalerie, in der du nur tollen und total kranken Künstlern die Möglichkeit gibst, ihren tollen und total kranken Kram auszustellen, zwar irrsinnig romantisch, aber gleichermaßen unrealistisch ist. Wir sind nicht mehr in unseren goldenen Zwanzigern, wir sollten inzwischen erwachsen sein. Und alles, was wir zu bieten haben, sind vollgeschissene Hosen.«
Rieke steckt die Zungenspitze in ihren noch fast randvollen Schokobecher und summt »Likely Lads« von den Libertines.
»Soso, wir haben also die Hosen voll?«, fragt sie, und ich kann die Watte in ihrem Kopf sehen.
»Bis obenhin!«
Später liege ich auf meiner Matratze und starre auf die Kartonwände um mich herum. Ich habe mir eine Höhle aus gestapelten Besitztümern gebaut, in der ich jetzt liege und schwitze. Seit einigen Tagen dreht der Sommer richtig am Rad, und die Stadt liegt bräsig herum und bläht träge ihren Asphalt auf, auch nachts kaum Abkühlung. In sechs Stunden kommen die Umzugshelfer und werden all meine perfekt beschrifteten Kartons in den geliehenen Transporter schleppen, und dann fängt etwas Neues an. Ein spätes Erstes Mal. Es ist so schade, dass die Ersten Male so viel seltener werden, je älter man wird. Anfangs prasseln sie noch ungebremst auf einen ein, mit einer solchen Geschwindigkeit und Häufigkeit, dass man gar nicht dazu kommt, sie so richtig wahrzunehmen, geschweige denn zu schätzen. Man klaubt einfach alles, was neu und anders ist, gierig zusammen. Und jetzt? Vorbei die Zeiten des ersten Vollrausches, der ersten selbstgeschmissenen Partys, Autounfälle, affigen anerlesenen Sexstellungen und Liebeskummer. Nie wieder sich zum ersten Mal etwas brechen, aus einem Auto kotzen, das Meer sehen. So viel schon erledigt, gehabt, gesehen und gemacht. Ich habe schon Bäume gepflanzt, Geld verdient, Delphine gesehen und bin schneller als 250 km/h gefahren. Habe Mädchen geküsst, Geld gestohlen, einen Schal gestrickt und meine Steuererklärung ausgefüllt. Ich bin fremdgegangen, habe ein Vier-Gänge-Menü gekocht und Mietschulden gehabt. Es scheint kaum noch etwas übrig.
Ist alles, was jetzt kommt, ausschließlich mit Nachwuchs und Nestbau verbunden? Werden meine Ersten Male ab jetzt das Zusammenziehen, gemeinsam Möbelstücke kaufen und Yoga sein? Und ist das der Grund für all die schlimmen Frauenzeitschriften-Listen? » 30 Dinge, die Sie gemacht haben müssen, bevor sie 30 sind!« Ein erzwungenes Revival der eigenen Jugend, die
Weitere Kostenlose Bücher