Wachstumsschmerz
war davon so beeindruckt, dass er versuchte, ein Spiel draus zu machen. Wie runtergerockt und unbrauchbar muss etwas sein, damit es nicht im Bermudadreieck unserer Straßen verschwindet. Ich hatte auf seine alte Matratze gewettet, sicher, dass da die Habgier aufhört. Eine gebrauchte und somit irgendwie gelbliche Matratze sieht, an die Hauswand gelehnt, so dermaßen wenig einladend aus, dass niemand daran Interesse haben kann. Und tatsächlich stand sie fast den ganzen Tag vorwurfsvoll neben Flos Haustür, bis sie, als wir abends von der Videothek zurückkamen, plötzlich verschwunden war. Vermutlich hört bei einer gebrauchten Matratze gar nicht die Habgier auf, sondern es setzt die Eitelkeit ein, die einen davor bewahrt, tagsüber beim Aufklauben einer fremden fleckigen Matratze gesehen zu werden.
»Nachts sind alle Matratzen grau«, stellte Flo zufrieden fest.
»Unfassbar, wie akribisch du deine Kartons beschriftet hast«, bemerkt Rieke mit echter Bewunderung und gleichzeitiger totaler Ungläubigkeit. In Riekes Wohnung herrscht Chaos. Überall Bücher, Bildbände, an den Wänden stehende Bilder und Kollagen, Papiere und Stoffe. Eine für Rieke sinnvolle Unordnung, natürlich, aber dennoch Chaos.
»Ich mag das. Ich mag es zu wissen, wo was ist, wo was hingehört und was wo drin ist.«
»Ja, ganz offensichtlich magst du das«, schmunzelt Rieke. »Aber hätte es nicht gereicht ›Kleidung‹ auf den Karton zu schreiben, statt ›Jeans/Hosen lang/Shorts‹?«
»Nein. Dann wüsste ich bei fünf Kartons mit Kleidung ja nicht, wo die Shorts sind.«
»Aber ist das nicht egal, da du die Kartons ja morgen direkt wieder alle auspacken wirst?«
»Wenn du mal umziehst, schreibst du auf deine Kartons nur ›Kunstkram‹?«, frage ich zurück, unnötigerweise eigentlich, denn die Antwort kenne ich schon.
»Ja. Vermutlich.«
»Und vermutlich wirst du nie umziehen. Du wirst, bis wir alt sind, in dieser kleinen Wohnung wohnen bleiben.«
Rieke lächelt ein bisschen und widerspricht nicht, mir hingegen versetzt der Gedanke an eine sechzigjährige Rieke, die immer noch in dieser kleinen rumpligen Kunstgeschichtewohnung lebt und Gurkenstullen zum Abendbrot isst, einen Stich.
»Warum hast du dich nicht um meine Wohnung beworben? Das wäre der kürzeste Umzugsweg der Welt gewesen! Du hättest noch nicht einmal Kartons gebraucht. Und ich hätte nicht malern müssen.«
Rieke denkt nach und sagt nichts. Ich habe inzwischen gelernt, nicht nachzuhaken. Rieke wird antworten. Aber erst wenn fertig gedacht wurde. Also sehe ich mich weiter in meiner Wohnung um. Es ist tatsächlich alles, was ich besitze, in ausführlich beschriftete Kartons verpackt. Nur wenige Möbel werden morgen ihren Weg in unsere (
unsere!
) Wohnung finden. Der weißlackierte Besenschrank, der schon in der Wohnung meiner Kindheit auf die Seite gekippt als Sideboard für den Fernseher benutzt wurde, bleibt. Genau wie der schöne Apothekerschrank und ein paar runtergerockte, aber tolle alte Schulstühle. Die indische Teekiste habe ich Rieke geschenkt, für meinen Jugendstilkalender aber habe ich einen empörten Blick geerntet.
»Ich denke, ich brauche gar nicht mehr Platz«, antwortet Rieke schließlich.
Manchmal benötige ich eine Weile, um mich an meine Frage zu erinnern, wenn Rieke so lange nachdenkt, aber wo, wenn nicht hier mit ihr, habe ich alle Zeit der Welt?
»Deine Wohnung ist winzig! Was sind das? Fünfunddreißig Quadratmeter?«
»Ich weiß, aber ich mag die Enge. Sie hält mich irgendwie fest. Wie eine gute Umarmung.«
»Du hast keine Badewanne!«
»Das ist der einzige Nachteil. An meiner Wohnung und daran, dass du wegziehst.«
So oft, wie ich bei Rieke in den letzten Jahren Stullenabendbrot hatte, so häufig hat sie bei mir gebadet.
»Nun, vielleicht hast du Glück mit dem Nachmieter!«
Rieke sagt nichts und denkt in sich hinein.
»Hast du Angst?«
Nun muss ich ein wenig in mich hineindenken.
»Nein. Nicht mehr. Ich fühl mich bedeutend ruhiger als während des letzten Jahres. Jetzt, wo die Wohnung gefunden ist, unsere alten gekündigt sind und vorerst nichts mehr rückgängig zu machen ist, fühle ich mich ganz wohl.«
»Merkwürdig. Eigentlich verursacht doch diese Endgültigkeit einen großen Teil der Angst, oder? Bekommen nicht die meisten Menschen erst dann richtige Panik, wenn sie vor dem Altar stehen?«
»Vermutlich. Mir gibt diese Unumstößlichkeit Sicherheit. Ich muss und kann erst mal nichts mehr entscheiden, hinterfragen,
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