Wachstumsschmerz
tanzen noch mehr und trinken und kiffen und ficken und sind ganz erregt von unserer Reife. Wir spielen erwachsen wie die Großen, und es fetzt, und wir haben doch noch so viel Zeit!
Und jetzt, zehn Jahre nach dieser Hysterie, bekommen wir den Kater, der uns zusteht. Wir haben mit jedem gevögelt, wir haben unsere billigen Turnschuhe zertanzt, die erschnorrten Drogen machen uns inzwischen Kopfschmerzen, und das erste Auto kommt nicht mehr durch den TÜV . Und plötzlich merken wir, dass wir uns ja immer noch erst in der ersten Hälfte unseres Lebens befinden und noch fünfzig Jahre vor uns liegen, die gefüllt werden müssen, und gleichzeitig verstehen wir gar nicht, wie die Zeit so schnell vergehen konnte.
Ganz verschwitzt und mit zerzausten Haaren setzen wir uns auf den Bürgersteig und atmen noch ganz schnell und flach und müssen uns auf einmal schon wieder entscheiden. Nur dass dieses Mal weiser, langfristiger entschieden werden muss. Der Kopf erhält die Macht, die ihm das Herz die letzten Jahre abspenstig gemacht hat, und das kennen wir so gar nicht, und jetzt wollen wir am liebsten nur noch ins Bett. Oder in ein schönes Hotel im Spreewald.
»Luise?«
»Entschuldige, ich hab nachgedacht.«
»Macht dir das Modeln oder Schauspielern denn grundsätzlich Spaß?«
Jetzt fahre ich mir durch den Pony und sehe sicher müde aus. Beim Entfernen der Splitter aus meiner Strumpfhose habe ich mir einen in den Zeigefinger gebohrt.
»Keine Ahnung. Ich hatte nie vor, irgendwas in der Richtung zu machen. Ist ja damals einfach irgendwie passiert. Und es war unkompliziert und hat unverhältnismäßig viel Geld eingebracht. Ich schätze, dass es das ist, was mich daran reizt. Nicht so richtig sympathisch, oder?«
Und damit bringe ich es aus Versehen auf den Punkt. Ich habe nie den Reiz verspürt, berühmt zu werden, im Mittelpunkt zu stehen, mein Gesicht in Zeitungen zu sehen. Ich bin kein geborener Entertainer, keine Schönheit, ich habe keinerlei Bedürfnis, mich herumzuzeigen wie etwas besonders Gelungenes. Nicht dass ich mich nicht für gelungen halte, aber meine Ambitionen sind nun mal kümmerlich und mein Talent augenscheinlich auch.
»Ach, unsympathisch ist es nicht. Aber grundsätzlich davon auszugehen, dass alle Jobs vor einer Kamera einfach und gut bezahlt sind, ist naiv. Das müsstest du eigentlich wissen, du warst ja inzwischen bei einigen Castings.«
»Das war doch alles kacke«, murmle ich in meinen hölzernen Zeigefinger.
»Die waren nicht alle kacke! Aber wenn du da jedes Mal reinrauschst, rummuffelst und dich ’nen Scheiß um die Rolle oder den zu vergebenden Job scherst, dann passiert eben auch nichts. So etwas spüren die Caster oder Kunden oder wer auch immer doch. Unter diesen Umständen würde ich meinen Kram auch nicht von dir verkaufen lassen wollen!« Angie drückt ihre Zigarette erschöpft in einem riesigen »Afri Cola«-Aschenbecher aus und sieht mich herausfordernd an.
»Mann, ich will eben nicht meine Fresse für schlecht geschriebene ›Allianz‹-Spots ins Fernsehen halten. Ich kann nicht so tun, als wäre ›Suzies‹ Verhältnis mit ›Bobby‹, dem gutbestückten Wanderarbeiter, ein anrührendes und wunderbares Stück wahrer Liebe. Das ist alles dämlicher, unglaubwürdiger Mist. Sorry!«
»Aber das ist eben der Job eines Schauspielers. So zu tun, als wenn du nachts beim Gedanken an Bobby sehnsüchtig masturbierend nicht mehr zum Schlafen kämst. Den Eindruck zu vermitteln, dass dein Leben vollkommen sinnlos wäre, wenn Bobby dich verlässt oder du keine vernünftige Hausratversicherung von der ›Allianz‹ hast. Selber sorry!«
»Ich habe nie behauptet, dass ich talentiert wäre.«
»Und ich habe nie behauptet, dass du es nicht wärst, Luise. Im Gegenteil. Ich glaube nach wie vor, dass du all das könntest. Du hast ein tolles, besonderes Gesicht, und du hast Talent. Du bist nur einfach, entschuldige, dass ich das so radikal sagen muss, nicht besonders ehrgeizig. Und damit verschwendest du meine Zeit und deine Zukunft. Und auch wenn es dir eine untragbare Last zu sein scheint, überhaupt hier zu sein und mich statt Angela Angie zu nennen, lass dir eins gesagt sein: Nicht alle Hipster sind anstrengende Arschlöcher, nicht jeder Jungschauspieler ist ein eitler Sack, und nicht jeder mit einer Fensterglas-Hornbrille hat nichts im Kopf. Da draußen laufen eine Menge junger Menschen rum, die gesehen werden wollen, sich abheben wollen, vielleicht sogar etwas verändern wollen. Dass viele
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