Wachstumsschmerz
angewinkelten Beinen liegenden Freund auf und sage: »Ich fühl mich wie zu Hause!«
Flo lässt die Beine auf die Matratze plumpsen, dreht sich von mir weg und brubbelt Zeugs. Ein Nachteil an diesem freundlichen und sonst sehr aufgeweckten Mann ist, dass er in der Nähe von Liegeplätzen extrem langsam wird. Im Falle eines nächtlichen Einbruchs wäre Flo leider kein verlässlicher Beschützer, da er Ewigkeiten bräuchte, um wach zu werden, und vermutlich erst dann das gesamte Ausmaß der Situation begreifen würde, wenn die Einbrecher, von all seinen lackierten Jugendmöbeln enttäuscht, schon verschwunden wären.
Ich schubse Flo noch ein wenig, um ihn so weit aufzuwecken, dass ich mich mitteilen kann, aber meine volle Blase und Flos Weigerung aufzuwachen lassen mich aufgeben. Also laufe ich zum zweiten Mal innerhalb der letzten paar Minuten zur Toilette und teste bei dieser Gelegenheit, ob das neue Zuhause-Gefühl auch dieses Mal noch funktioniert. Tut es, und ich pinkle das erste Mal in mein eigenes Klo und nicht das einer schönen, fremden Wohnung.
T rotz zarter erster Heimeligkeitsgefühle bleibt unsere Wohnung wochenlang ein unfertiger, sich scheinbar ständig verändernder Organismus. Obwohl der eigentliche Umzug in der kürzestmöglichen Zeit vollbracht wurde, tun sich permanent neue Baustellen auf. Ich finde mich dauernd in Baumärkten und Möbelhäusern wieder, auf der Suche nach Dübeln, Holzkeilen oder Inspiration. Flo, dessen wenig flexible Arbeitszeiten diesen Job fast ausschließlich mir überlassen, fängt an, sich über mich lustig zu machen, und nennt mich wiederholt wahlweise »Tine Wittler« oder »Sonya Kraus«, zwei Witze, deren fehlende Innovativität mit Flos fehlendem Enthusiasmus einhergeht. Denn für ihn ist der Umzug mit dem Auspacken des letzten Kartons vollbracht. Dass wir Gardinenseile brauchen, damit wir nicht immer die Schlafzimmervorhänge im Kippfenster einklemmen müssen, dass Holzkeile die Schränke, die durch die verzogenen Böden unserer Altbauwohnung allesamt schief stehen, justieren und dass es vernünftige Dübel braucht, um Bilder und Regale an den steinernen Wänden anzubringen, nimmt er nicht wahr. Oder besser: Er sieht die Notwendigkeit nicht. Ein Punkt, in dem wir uns sehr unterscheiden. Dieses neue Erwachsenenleben soll auch erwachsen begonnen werden. Ich möchte keine halbgaren Übergangslösungen, die wie so oft dann heimlich zu Dauerlösungen werden. Ich möchte Sachen erledigt haben. Ich mag den Moment, in dem etwas abgeschlossen und richtig fertig ist. Meine innere Checkliste ist viel ausgeprägter als Flos imaginäres Clipboard. Also kümmere ich mich allein. Besorge Abklebeband, Schraubensets, Steinbohrer und selbstklebende Filzdinger, die den Boden unter vielbewegten Möbelstücken schonen. Ich bohre Löcher, schraube Regale an Wände und Drahtseile an Fenster.
Wenn Flo nach Hause kommt und mich mit dem Schlagbohrer in der Hand erwischt, tut er immer so, als wenn ich reines Plutonium in den Armen halten würde, und geht mit erhobenen Händen mehrere Meter langsam zurück.
Ich kann dem Witz nach dem dritten Mal nicht mehr besonders viel abgewinnen und zeige ihm daher einen Finger meiner Wahl.
»Tine, jetzt entspann dich mal!«, lacht er.
»Alter, wenn du mich noch einmal Tine Wittler nennst, male ich im Schlafzimmer die chinesischen Zeichen für Heim, Glück und Liebe über das Bett und dekoriere die gesamte Wohnung mit Granny-Smith-Äpfeln in Schalen!«, drohe ich.
Flo sieht plötzlich entsetzt aus: »Das würdest du nicht tun!«
»Doch. Und für jedes ›Sonya Kraus‹ hänge ich ein Bild von Raffael
s
Engeln auf. Also reiß dich mal ein bisschen zusammen.«
»Weshalb bist du so genervt?« Flo lacht nicht mehr.
»Weil ich mich plötzlich um allen Scheiß allein kümmern muss. Und weil du mir als Belohnung Namen von blöden Fernsehbratzen gibst.«
»Du willst belohnt werden?«
»Nicht ausgelacht werden wäre schon genug. Und ein wenig Hilfe vielleicht.«
»Luise, ich biete dir permanent meine Hilfe an, aber dir dauert ja immer alles zu lange, und dann komm ich nach Hause, und du stehst mit diesem Monstergerät in der Hand und kuckst irre vorwurfsvoll.«
»Weil ich Angst vor dem Monstergerät habe!«
»Dann lass mich die Löcher bohren.«
»Du hast auch Angst vor dem Monstergerät!«
»Ja, aber das würde ich nie zugeben. Ich würde total souverän damit aussehen, wenn du mich nur mal lassen würdest.«
Ich lege den Bohrer zur Seite und hocke
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