Wachstumsschmerz
mich auf den Boden und nehme mein Gesicht in die vom Bohren staubigen Hände. Flo hockt sich daneben und atmet tief aus. »Ehrlich, Lu, du musst dich mal ein bisschen entspannen.«
Ich sehe auf und ihn an. »Muss ich das? Weshalb?« Meine kurzfristige Erschöpfung ist Wut gewichen. »Alles, was ich will, ist, dass diese verdammte Wohnung endlich richtig fertig ist. Dass nicht mehr überall Glühbirnen an nackten Kabeln von der Decke baumeln, dass wir nicht immer im Sitzen duschen, nur weil es immer noch keine Stange für einen Duschvorhang gibt. Ich will in jedem Zimmer zu jeder Tageszeit Sex haben können, das geht aber nicht, wenn wir keine Vorhänge haben. Ich will hier endlich richtig ankommen.«
Flo runzelt die Stirn und nimmt nun selbst den Kopf in die Hände.
»Und, ja«, lege ich nach, »du bietest deine Hilfe an. Aber wenn du nach Hause kommst, willst du erst mal deine Ruhe. Wenn du deine Ruhe hattest, wollen die Nachbarn ihre Ruhe, und es darf nicht mehr gebohrt werden. Also mache ich den ganzen Kram allein.«
»Wieso fühlst du dich erst dann angekommen, wenn wir eine Duschstange haben?«, fragt Flo.
»Weil ich, solange wir keine Duschstange haben, ein Gefühl von Unvollständigkeit habe. Und das kann ich nicht leiden. Genauso wenig, wie im Sitzen zu duschen. Ich bin doch kein Senior. Solange ich noch kann, will ich im Stehen duschen!«
Flo sieht mich abschätzend an.
»Was?«, frage ich schärfer als nötig.
»Und von der Duschstange abgesehen, fühlst du dich aber angekommen?«
»Nein. Wir brauchen Lampen und Filzdinger.«
»Ja, aber von all diesen Sachen abgesehen. Ich meine emotional. Fühlst du dich angekommen?«
Mir wird heiß im Bauch. Diese Frage habe ich nicht erwartet. Mir selbst nicht gestellt. Oder zumindest nicht beantwortet.
»Ja«, antworte ich patzig wie ein furchtbares Kindergartenkind, stehe auf und gehe duschen. Im Sitzen.
Memo
Oh, mein Freund, denk aber nicht, dass ich nicht auch wütend bin! Es gibt Tage, da glaube ich mich irgendwo festbinden zu müssen, damit ich nicht gegen die Wände renne. Du hast mich alleingelassen in einer Wohnung, die dauernd mit deiner Stimme flüstert. Ich kann mich nicht einen Meter bewegen, ohne gegen dich zu stoßen. Dein Zufluchtsort ist frei von mir, aber ich bin an einem Ort gefangen, an dem ich dich mit jedem Atemzug einatmen muss. Deine Hautschüppchen, deinen verbrauchten Atem, deinen verfickten Geist. Überall bist du und ich aber eben auch und kann doch aber nicht weg, denn wo soll ich denn hin? Wo soll ich denn jetzt zu Hause sein? Deine Angst und deine Unsicherheit, du hast sie auf meinen Schultern abgelegt! Doch die können jetzt grade nicht. Sie ermüden schon unter dem Gewicht meines Kopfes, wie soll denn da noch Platz für deinen Kack sein? Wie kannst du mir zumuten, all das alleine zu tragen? Und natürlich höre ich dich sagen: »Luise, für mich ist das doch auch schwer, ich leide doch auch!« Aber das ist mir nichts wert. Denn tust du das wirklich? Leidest du? Oder ziehst du nicht eigentlich einfach den Kopf so weit wie möglich ein, machst dich so klein, dass das Leben dich vielleicht, wenn du Glück hast, einfach übersieht?
Ich kenne dich: Du spielst auf Zeit. Hoffst, dass sie irgendwann eine Entscheidung für dich trifft. Aber das wird sie nicht, das kann sie gar nicht, das ist überhaupt nicht ihr Job!
Wie kannst du dich so leicht aus den Angeln heben lassen, so kopflos einfach den Schwanz einziehen? Und vor allem: Wie kannst du mich hierlassen? Eingewickelt in ein Stacheldrahtnetz aus Unsicherheit liege ich hier und kann mich in keine Richtung rühren, dabei solltest du mich doch eigentlich beschützen! Der stärkere Part sein! Musst du mir nicht deine Jacke geben, anstatt mich allein im Sturm zu lassen? Und es stürmt! Das kann ich dir sagen!
I rgendwann ist tatsächlich alles fertig. Es gibt nichts mehr zu tun, unsere Wohnung verändert sich nicht mehr, sie steht still.
Und mit der Ruhe kehrt auch der Alltag zurück. Die Tage verlaufen wie vor unserem Umzug: Flo geht in die Kletterhalle, ich in den Laden.
Und dort sitze ich an meinem Arbeitstisch, schiebe Schnittmusterbeispiele und Gedanken hin und her, während ich den anderen Mädels beim Arbeiten zusehe. Sich nicht mehr mit der Fertigstellung der Wohnung zu beschäftigen bedeutet, sich wieder mit meinem irgendwie unfertigen Leben zu beschäftigen. Der Gedanke daran macht mich müde, und ich wünsche mir fehlende Filzdinger zurück.
Der Anzug von Herrn
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