Wachstumsschmerz
Frankie von der Liebe singt und wir den ersten Schieber in unserer gemeinsamen Wohnung tanzen.«
»›First Day of My Life‹!«
»Hast du den nicht bereits vorhin in deiner leeren Wohnung gehört?«
Ich bekomme rote Ohren und sage nichts.
»Aber du hast recht, das wäre ein schönes Lied für eine Beerdigung. Ich versuche, es nicht zu vergessen. Und jetzt ab ins Bett!«
Und nach ein paar weiteren kleinen Ersten Malen (Zähne putzen, ausziehen, Wasser ans Bett stellen, Nachttischlampen ein- und ausschalten) liegen wir in unserem plötzlich riesig erscheinenden neuen Bett und klammern uns genau in der Mitte aneinander, als teilten wir ein schmales Jugendzimmerbett.
»Das hier ist richtig!«, murmle ich zu Flo und zu mir.
Flo murmelt nur noch Unverständliches zurück.
U nd dann kommt er tatsächlich, der Punkt, an dem ich nicht mehr durch die neue Wohnung wandele, als wäre ich nur ein ungläubiger, aufgeregter Gast. Als ich nach einer Woche mitten in der Nacht den langen Flur zum Klo entlangwanke, erwische ich mich dabei, zum ersten Mal nicht zu denken: »Soso, das ist also der neue Weg zum Klo«, sondern mich tatsächlich zu Hause zu fühlen. Fast ein wenig von dem Gefühl überrumpelt, bleibe ich vor der Klotür stehen und fühle in mich rein. Ein Erstes Mal, wie ich es liebe: überraschend und verunsichernd. Ich drehe um und laufe zurück zum Bett, um Flo teilhaben zu lassen.
Eine faszinierende Eigenschaft von Flo ist, dass er überall und unter fast allen Umständen schlafen kann. Egal wo man ihn ablegt, innerhalb von fünf Minuten pennt Flo weg. Leider ist es ihm unter diesen Umständen fast unmöglich, im Bett zu lesen, da er nie weiter als zwei oder drei Seiten kommt und es oft noch nicht einmal schafft, das Buch loszuwerden, bevor er einschläft. Das hat schon zu sehr rührenden Szenen geführt, bei denen Flo in allen erdenklichen Lesepositionen eingeschlafen ist: auf dem Bauch liegend, das Buch vor ihm auf dem Kissen, aber auch auf dem Rücken liegend, das Buch immer noch fest in den Händen über seinem Gesicht. Ungeübte Beobachter würden denken, dass er immer noch liest, da seine Körperspannung beim Wegnicken nicht genug nachlässt, um seinen Kopf auf das Buch oder das Buch auf seinen Kopf fallen zu lassen, aber nach all den Jahren im Bett mit Flo kann ich inzwischen spüren, ob er grad einschläft oder nicht. Ich sehe nicht hin und höre es auch nicht an seinem Atem, sondern ich kann es im wahrsten Sinne des Wortes spüren.
Ihm ist es unverständlicherweise immer unangenehm, beim Einschlafen erwischt zu werden, mir pumpt es jedes Mal heißes Blut durchs Herz.
Und diese ganzen kleinen Routinedinger machen mein Leben mit Flo so schön. Alles, was wir an Wissen über Vorlieben und Macken des anderen in den letzten Jahren so angesammelt haben, mündet in dieser unserer gemeinsamen Wohnung in ein perfekt choreographiertes Ballett der Verhaltensweisen. Aufgrund unserer verschiedenen Arbeitszeiten steht Flo immer zwei Stunden vor mir auf. Sein Telefon weckt ihn laut genug, dass er nicht verschläft, leise genug, um mich nicht zu stören. Wenn er aufsteht, schließt er als Erstes das Schlafzimmerfenster, weil er weiß, dass ich den morgendlichen Straßenlärm nervend finde. Obwohl er eigentlich nicht gern frühstückt, isst Flo manchmal eine Schüssel Cornflakes, bevor er geht, weil er weiß, wie gerne ich es mag, wenn morgens eine leere Schüssel auf seinem Platz des Küchentisches steht. Dafür kaufe ich im Supermarkt das ganze ungesunde Zeug ein, das Flo gerne isst, und freue mich über jede Tiefkühlpizza in unserem Kühlschrank. Ich nähe Flos Kissenbezüge um, weil er mit normalen Kissen nicht schlafen kann und lieber diese merkwürdigen Kissenwürste bevorzugt, die sich nicht so schnell zerknautschen lassen, aber eben auch nicht in normale Bettwäsche passen. Und abends stelle ich Wasser an sein Bett, und er räumt dafür die leeren Gläser weg, bevor er zur Arbeit geht. So tanzen wir durch unser neues gemeinsames Leben wie Fred Astaire und Ginger Rogers, und obwohl es auch genauso altbacken scheint wie die berühmten Schwarz-weiß-Tanzszenen, lieben wir dieses brandneue
Wir
und zelebrieren es, wo es nur geht.
Und diesen Moment vor der Klotür, ein Moment, in dem aus dem hysterischen Neuen plötzlich und mitten in der Nacht ein schönes Gewohntes entsteht, will ich mit Flo teilen, also wecke ich meinen auf dem Bauch schlafenden, verwirrenderweise aber mit im rechten Winkel zur Decke
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