Wachstumsschmerz
ich spiele »First Day of My Life« von Bright Eyes.
Und da stehe ich: schwitzend, die Unterlippe wie ein schmollendes Kleinkind vorgeschoben und vollkommen übertrieben zu rührender Indie-Musike die Tränen wegblinzelnd.
Bevor ich mich allerdings zu armselig finden kann, klopft Rieke, die wenigstens das Ende des Songs abgewartet hat, an die unsere Wohnungen trennende Wand und brüllt: »Erbärmlich!«
Also mache ich die Musik aus, packe Rieke und dreißig vegetarische Quiches in mein Auto und fahre in mein neues Leben.
Als wir die neue Wohnung erreichen, ist schon fast alles aus dem Transporter geräumt. Flo kommt grad aus der Haustür und umarmt mich rotbackig. »Willkommen im ersten Tag deines Lebens!« Rieke trägt ihre Quiches an uns vorbei in die Wohnung, und ich frage mich, ob Flo mich so gut kennt, dass er weiß, was ich in den letzten Minuten in meiner alten Wohnung hören würde, oder ob das nur ein Glückstreffer war. Vorsichtshalber frage ich aber nicht, sondern erkundige mich, ob noch genug Getränke für alle da sind und ob irgendwer Hunger hat.
»Wir fahren jetzt eh gleich meinen Kram holen und essen auf dem Weg irgendwo ’ne Pizza, dann kannst du schon mal in Ruhe anfangen auszupacken.«
»Aber Rieke hat Quiches gemacht!«
»Deshalb gehen wir ja ’ne Pizza essen.«
»Ihr seid Ärsche!«
»Ärsche, die gern Fleisch und Käse essen!«
»In den Quiches ist Käse.«
»Luise!«
»Florian!«
»Ab nach oben, du oller Streitvogel, lass die Männer den Umzug beenden!«
»Danke.«
»Wofür?« Flo scheint tatsächlich nicht sicher.
»Dafür, dass ihr so schnell seid und …« Ich zögere und bemerke schon wieder die ersten Vorboten von Tränen. Meine Güte, jetzt kann aber auch gerne mal Schluss sein mit der ganzen Rührung. Wie soll das erst werden, wenn ich jemals ein Kind bekomme.
»So stark?«
»Auch. Aber so …«
»Sexy?«
»Florian! Einfach danke. O.k.? Für alles. So.«
Ich drehe mich um und ernte auf dem Weg in unsere erste gemeinsame Wohnung einen klebrigen Klapps auf den Hintern.
»Du bist süß, wenn du nicht heulen willst!«, ruft mir Flo hinterher.
Vier Stunden später ist alles da, und bis auf Flos Freund Arne und Rieke sind alle weg.
Die Möbel stehen bereits alle an ihrem Platz, das Bett und die neue Matratze wurden vor einer Stunde geliefert, und meinem dringenden Bedürfnis nach schnellstmöglicher Heimeligkeit folgend, habe ich all meine Kartons und die Hälfte von Flos bereits ausgepackt. Sämtlicher Küchen- und Badkram ist eingeräumt, all unsere Bücher stehen in den Regalen, und fast sieht es aus, als hätten wir schon immer hier gewohnt. Es hängen sogar schon einige Bilder.
»Wow. Irgendwie unheimlich«, findet Arne, nicht ohne Ehrfurcht.
»Ja!«, findet Flo, nicht ohne Stolz.
»Niemand hat meine Quiches gegessen«, sagt Rieke.
Und dann sind wir zum ersten Mal in der neuen Wohnung allein, ohne etwas zu tun. Wir sind lange um diesen Moment herumgeschlichen. Haben leere Umzugskartons in den Keller gebracht (erstes Mal Keller!), haben das Bett bezogen (erstes gemeinsames Bett!), geduscht (erstes Mal Körperhygiene im neuen Bad!) und sind essen gegangen. Auf unserem ersten gemeinsamen Heimweg in unsere erste gemeinsame Wohnung sind wir erschöpft und vibrieren gleichzeitig seltsam. Wir sehen zum ersten Mal in den Briefkasten (leer, natürlich), steigen das erste Mal gemeinsam die Treppen zu unserem neuen Heim hinauf ( 72 Stufen) und können uns nicht einigen, wer die Wohnungstür aufschließen soll.
Und dann stehen wir fast ein wenig hilflos herum. In einer fremden Wohnung mit unseren Namen dran.
»Erinnerst du dich an deinen letzten Umzug? Wie lange braucht man noch mal, um sich nicht mehr fremd zu fühlen?«, frage ich leise Flo, dessen Hand ich halte, seitdem wir das Restaurant verlassen haben. Flo drückt meine Hand fest, was ein schmatzendes Geräusch verursacht.
»Ein paar Tage vielleicht? Höchstens zwei Wochen?«
»Hm.«
»Aber es ist schön hier. Ich mag, dass all unser Kram plötzlich nebeneinandersteht.«
Ich nicke und kann die romantische Bedeutung mit ganzem Herzen nachfühlen. Rein faktisch ist die Mischung unserer Möbel allerdings ein wenig unglücklich. Wie ich bereits für meine Habseligkeiten festgestellt hatte, hat auch Flo seinen Einrichtungsstil seit Jahren unverändert mitgeschleift. Länger als ich vermutlich, denn große Teile seiner Möbel sind in aufregenden Jugendzimmer-Farben nachlackiert. Eine Maßnahme, die
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