Wachstumsschmerz
Forstmann ist fertig, das Geld überwiesen. Eintausend Euro, die Kosten für den Stoff nicht mit eingerechnet. Flo war anfangs sehr beeindruckt von dieser Zahl, bis ich ihm erklärte, dass das einen Stundenlohn von elf Euro bedeutet, da in einem durchschnittlichen dreiteiligen Anzug etwa fünfundachtzig Stunden Arbeit stecken. Wenn es hochkommt, kann ich davon zwei im Monat machen. Eher weniger, denn unser Laden hat kaum Laufkundschaft. Und die Kundschaft, die gelaufen kommt, läuft langsam und nicht mehr besonders lange. Ab und zu sind mürrische Theaterschauspieler dabei, eher aber redselige schiefe ältere Herrschaften. Stammkundschaft ist das eigentlich nicht, denn wie viele Anzüge braucht man denn noch, wenn man auf die siebzig zugeht? Wenn es gar nichts zu tun gibt, helfe ich den anderen bei ihren Aufträgen, meist Theaterausstattung oder, wie zur Zeit, richtig blöder Kram wie das Nähen von überdimensionalen goldenen Sitzsäcken für die After-Party einer Musikpreis-Verleihung. Ein widerliches Bild: reiche Musikärsche, die selbige auf riesigen goldenen Säcken parken. Eine schlimmere und gleichzeitig einfachere Metapher für Auf-Geld-Sitzen gibt es vermutlich nicht. Ich vernähe also Stoff, auf dem dann schlimmstenfalls die Toten Hosen rumhängen, ihre Wodka-Red-Bulls vergießen und RTL betrunkene Interviews geben. Aber natürlich sind diese Arbeiten die zwar furchtbare, aber seltene Ausnahme.
Dennoch halten mich diese Jobs über Wasser. Denn natürlich habe ich nach jedem fertiggestellten Anzug die Angst, dass dies der letzte gewesen sein könnte, dass diese tausend Euro mein letztes Gehalt waren und ich jetzt doch auf den medialen Strich gehen muss, wie mein Vater es vorhersieht.
Dieser ganze Freiberuflerscheiß mit seinen verführerischen Freiheiten und Möglichkeiten! Wie sehr ich mir manchmal wünsche, hinter dem Tresen einer Kundenberaterin der Sparkasse gefesselt zu sein. Einfach müssen, nicht können.
Das Telefon klingelt und schiebt meine wenig emanzipierten Gedanken beiseite. Eine schon etwas ältere Dame namens Frau Mewis möchte wissen, ob ich auch Röcke mache.
»Natürlich«, antworte ich und schiebe den goldenen Sitzsackstoff von mir weg.
»Das ist sehr gut! Sie müssen wissen, dass sich im Alter meine Taille ein wenig verändert hat«, sagt Frau Mewis eher geistesabwesend. Ich muss lächeln, weil eine durch das Alter veränderte Taille so viel schöner klingt als: »Ich habe zugenommen.« Dann bekomme ich kurz einen Schreck. Vielleicht hat Frau Mewis gar nicht zugenommen, sondern ihre Taille hat sich tatsächlich verändert, vielleicht hat irgendeine Krankheit zu schlimmen Verwachsungen geführt.
»Wann könnten Sie denn mal vorbeikommen?«, frage ich.
»Ich habe dieser Tage mehr zu tun als die meisten Zwanzigjährigen. Glauben Sie mal nicht, dass das Alter einen zur Ruhe kommen lässt!«
»Oh, glauben Sie mir, das denke ich nicht. Sagen Sie mir doch einfach, wann es Ihnen passen würde, und dann finden wir schon irgendwie zueinander.«
Frau Mewis raschelt mit einem offensichtlich papierenen Kalender und blättert Seiten wie bekloppt.
»Wie wäre es mit morgen?«, fragt sie schließlich und hinterlässt mich ein wenig verdutzt. Nach der Menge der Seiten, die umgeblättert wurden, hatte ich mit frühestens nächstem Monat gerechnet. Kurz ziehe ich in Erwägung, ein bisschen mit meinen Schnittmustern zu rascheln, um selbst einen möglichst beschäftigten Eindruck zu erwecken, sage dann aber doch einfach sofort zu. Wem will ich denn hier etwas vormachen?
»Dann sehen wir uns morgen um zehn, Frau Mewis. Eine Frage noch: Haben Sie sich schon mal etwas maßschneidern lassen?« Eine reine Vorsichtsmaßnahme die Frage. Die meisten Menschen sind sehr überrascht von den Kosten, die entstehen, wenn man nicht von der Stange kauft.
»Natürlich! Haben Sie mal gesehen, was dieser Tage so in den Läden hängt? Das kann doch niemand tragen!« Frau Mewis scheint ernsthaft entrüstet über die heutige Mode, und ich mache mir wieder ein wenig mehr Sorgen über ihre Taille.
»Sehr gut, dann sehen wir uns morgen.«
Nachdem ich aufgelegt habe, starre ich noch ein wenig auf den wartenden goldenen Sitzsackstoff.
» A ch, Angie, du verarschst mich doch!«
Ich rühre ungeduldig den Zucker in meinem Kaffee herum und sehe auf die Küchenuhr, während am anderen Ende der Leitung konsternierte Stille herrscht.
»Ganz im Ernst? Für Braunbären?«
»Was ist das Problem mit Braunbären, Luise?«,
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