Wachstumsschmerz
Substantiven.
»Weitschwingend oder enganliegend?«, frage ich.
Frau Mewis hebt eine sehr dünne Augenbraue und fragt: »Was glauben Sie? Sehe ich aus wie eine Zigeunerin?«
Dann platzt zumindest ein bisschen der Mond, einhundertvierzig potentielle Euro für einen Rock hin oder her: »Keine Ahnung, Frau Mewis. Sehe ich aus, als könnte man mich für fünfzig Cent vom deutschen Festnetz aus anrufen, damit ich Ihnen die Zukunft voraussage? Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen und Ihrer veränderten Taille einen Rock nähe, müssen Sie mir schon ein bisschen helfen. Also: welcher Stil? Tellerrock? Bleistiftrock? Glockenrock? A-Linie?«
Nun werden mehrere Augenbrauen im Raum hochgezogen. Meine (abflauend herausfordernd), Frau Mewis’ (erstaunlicherweise nicht verärgert, sondern ungläubig) und (überrascht, aber nicht ohne Respekt) die der Praktikantin Maja oder Miriam, die kurz in den Raum gekommen ist, um meine Stoffschere auszuleihen. Nachdem sie auf leisen Sohlen (die erstaunte Augenbraue noch nicht wieder ganz herabgelassen) die Tür hinter sich schließt, fällt mein Kopf plötzlich so schwer wie der meiner Negerpuppe nach vorn. »Entschuldigung«, sage ich nach einem tiefen Atemzug. Bevor ich mich erklären kann (nicht dass ich wüsste, wie, aber ich habe das Gefühl, dass ich sollte), sagt Frau Mewis: »Bleistiftrock. Angemessener Schlitz hinten, damit ich nicht wie eine dieser furchtbaren Geishas durch die Gegend tippeln muss.« Und damit scheint das Thema irgendwie erledigt.
Am Abend liegen Flo und ich in Unterwäsche auf unserem riesigen Bett. Die Gliedmaßen in alle nur möglichen Richtungen ausgestreckt, nutzt jeder seine ihm zustehenden neunzig Zentimeter voll aus. Obwohl der Sommer fast vorbei ist, ist es unerträglich heiß und schwül, und es bedarf eines über Wochen genau ausgeklügelten Planes, die Wohnung so kühl wie unter den gegebenen Umständen möglich zu halten. Flos Internetrecherche hat ergeben, dass tagsüber dringend alle Vorhänge zu schließen sind. Dasselbe gilt für die Fenster. Licht und Luft müssen unbedingt draußen bleiben, bei bis zu teilweise vierzig Grad Außentemperatur erscheint das logisch, sorgt aber für ordentliche Muffluft in der Wohnung. Sobald es sich abends auf den Straßen etwas abgekühlt hat, darf komplett durchgelüftet werden. Man tauscht dann also zweiunddreißig Grad warme Wohnungsluft gegen achtundzwanzig Grad warme Stadtluft aus.
Und so liegen wir bei aufgerissenem Schlafzimmerfenster in einer immer noch viel zu warmen Mischluft rum und stöhnen wie alte Weiber beim Waschen.
»Nennt man das deshalb Altweibersommer?«, frage ich Flo.
»Weil wir so schnaufen? Ich denke nicht. Schöner Gedanke aber.«
»Weshalb nennt man es dann so? Und wann ist überhaupt Altweibersommer?«
»Ich glaub, das hat irgendwas mit Spinnweben zu tun. Was genau, weiß ich aber nicht mehr. Und kommt erst in ein paar Wochen. Irgendwann im September, glaub ich.«
»Ich habe heute eine alte Dame angepisst. Und Angie. Und du?«
»Niemanden. Warum hast du gepisst? Haben diese schrecklichen Monster mein Mädchen wütend gemacht?«
»Ach, die eine war doof und die andere auch.« Eigentlich möchte ich gar nicht drüber sprechen. Vermutlich hatte ich nur das Bedürfnis, einmal laut auszusprechen, dass ich mich danebenbenommen habe. Manchmal hilft mir das schon, mich nicht mehr so schuldig zu fühlen.
»Ah«, sagt Flo und dreht sich träge zu mir, um mich zu umarmen.
»Bäh«, sage ich.
»Wie bäh?«
»Geh weg. Zu warm. Nicht anfassen.«
Flo sagt nichts und dreht sich wieder zurück. Jetzt war ich doof zu drei Menschen.
Dennoch würde ich mir manchmal ein bisschen Aufstand von Flo wünschen. Ein wenig mehr fordern und ein bisschen weniger schlucken. Andererseits würde ein eventueller Aufstand vermutlich in einen Kampf münden, dem er nicht unverletzt entkommen würde. Ich merke, dass meine Reizbarkeit der letzten Monate in den letzten Wochen noch zugenommen hat. Meine Haut ist von der Hitze ganz dünn geworden. So fühlt es sich zumindest an. Manchmal, wenn es besonders in mir rumpelt, tut sie richtig weh. Ohne sichtbare Spuren brennt sie. Von allein, bei Berührung noch mehr. Natürlich glaubt Jana, dass es sich um psychosomatische Nervenschmerzen handelt, ich glaube, dass es einfach diese an mir klebende Unzufriedenheit der letzten Zeit ist. Sie liegt wie ein dünner Säurefilm auf meiner Haut und ätzt. Vermutlich meinen Jana und ich damit sogar das Gleiche. In jedem Fall
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