Wachstumsschmerz
fühle ich mich dünnhäutig und fast durchgehend missmutig. Dass Flo nun Kollateralschaden sein muss, tut mir zwar leid, andererseits wehrt er sich so wenig, dass ich nur begrenztes Mitgefühl für die Wunden, die ich zufüge, haben kann. Man muss »aua« sagen, wenn einem weh getan wird. Grenzen aufzeigen, um seine Weichteile zu schützen.
In einem früheren Gespräch erklärte Flo, dass er mir keine Grenzen aufzeigen wolle. So sei er nicht. Er finde, dass jeder den Partner so akzeptieren solle, wie er nun mal sei. Ein sympathisch hippie-esker Standpunkt, dennoch vollkommen unpraktikabel, wenn man ohne größere Schürfwunden durchs Leben gehen möchte. Und so versuche ich, in unserer Beziehung so wenig blaue Flecken zu verteilen, wie es mir eben möglich erscheint, wenn ich nicht auf Fehlverhalten hingewiesen werde. Ein schwieriges Unterfangen. Nicht selten erfolglos.
Nachdem wir ein paar Minuten still und regungslos rumgelegen, unsere Waffen gesäubert und die Wunden geleckt haben, frage ich Flo, wie er Braunbären findet.
»Keine Ahnung. Weshalb?«
»Angie hat einen Job für mich. Eine Kampagne zum Schutz von Braunbären.«
»Klingt doch gut!«
»Sie wollen jemanden, der irgendwie hip aussieht. Und sind bei mir gelandet.«
»Was musst du machen?«
»Nichts. Ein Shooting. Wird ’ne Plakatkampagne.«
»Und?«
»Was und?«
»Machst du es?«
»Nein.«
»Willst du bitte von allein drüber reden, oder wird das jetzt wieder so ein Seilziehen um Information?«
»Vergiss es!«, sage ich und setze mich auf. Zack, den zarten Aufstand zerschlagen. Die Haut an meinem Rücken ist klebrig vom Schweiß und brennt. Ich würde gern meinen BH ausziehen, befürchte aber, dass das plötzliche Blankziehen meine Position schwächen, zumindest aber für Verwirrung sorgen könnte, also hebe ich nur den Verschluss am Rücken leicht an, um direkten Hautkontakt zu vermeiden.
»Hautschmerzen?«, fragt Flo.
»Ja. Bisschen.«
»Soll ich dir einen kalten Waschlappen oder so holen?«
»Nein, geht schon.«
»Los, erzähl das mit den Bären zu Ende. Ich will nicht streiten.«
Nein, streiten möchte Flo nicht. Konflikte sind seine Achillesferse. Daher auch so wenige Aufstände. Normalerweise fahren wir damit gut. Ich versuche, ihn nicht zu verletzen, dafür schweigt er, wenn ich es doch tue. In Krisenzeiten funktioniert dieser Nichtangriffspakt naturgemäß nicht so gut. Ich werde unvorsichtiger, was das Anrichten von Schaden angeht, er wird noch stiller, was die Schmerzmeldung betrifft. Eine ungesunde und anstrengende Mischung. Für uns beide.
»Die Bärenkampagne ist scheiße. Die wollen mich in cooler, dynamischer und möglichst jugendaffiner Pose, daneben ein Bär und ein Slogan.«
»Was für ein Slogan?«
»›Bärenpunktstarkausrufezeichen‹.«
»Oh.«
»Ja.«
»Wirklich ›stark‹?
»Ja. Weil wir jungen Menschen das so sagen. Es bedeutet nicht nur kräftig, sondern auch dufte, knorke oder groovy! Alles Attribute, die man landläufig Bären zuordnet.«
»Fuck. Das tut mir leid.«
Ich nestle weiterhin umständlich an meinem BH -Verschluss rum und nicke vor mich hin.
»Meinst du, dass deshalb vielleicht die meisten Bären tot sind? Dass sie aus Verzweiflung Selbstmord begangen haben?«, fragt Flo sehr ernst.
Und dann verlasse ich meine neunzig Zentimeter Bett, um meine brennende, schwitzige Haut an seine zu legen.
W ir rühren seit Ewigkeiten schweigend in unseren Milchkaffees. Für mich ist das nicht besonders ungewöhnlich, ich rühre meine Heißgetränke immer wahnsinnig lange um. So lange, dass es sich per Definition vermutlich offiziell um einen Tick handelt. Ich finde die Vorstellung, dass die rauen Mengen Zucker, die ich in meine Tees/Kaffees schütte, nur kurz in Wallung geraten und dann zur Hälfte unaufgelöst wieder langsam zu Boden rieseln, unerträglich. Ein Kaffee, der oben nicht süß genug ist, unten hingegen viel zu sehr, macht mir schlechte Laune. Also rühre ich so lange, bis ich sicher bin, dass jedes einzelne Zuckerkorn aufgelöst ist. Aus diesem Grund mag ich auch diesen groben, braunen Bio-Rohrzucker nicht, Kandis lehne ich vollkommen ab. Bis sich diese bernsteinfarbenen Klumpen in einem Tee vollkommen verflüssigt haben, ist er kalt.
In einigen Kaffee-zum-Mitnehmen-Läden geben die sogenannten Baristas den Zucker für ihre Kunden in den Kaffee, rühren zwei Sekunden lang um (meist nur drei bis vier Rührbewegungen), pappen den Deckel auf den Becher und lassen einen mit einem
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