Wachstumsschmerz
Studentenfreundinnen weggezogen. Schließlich hat grade »We Are Family« von Sister Sledge eingesetzt. Dazu muss man doch tanzen! Rieke kann sich gar nicht entscheiden, ob sie erschrocken oder belustigt kucken will, entscheidet sich daher für eine merkwürdig anmutende Mischform, brabbelt irgendwas von »Telefon« und verpisst sich. Irgendwann ist also auch bei Rieke die Toleranzgrenze erreicht, stelle ich erleichtert fest, und führe mein Stück Kuchen auf die Straße vor das Café. Ich muss harken in mir. Wenigstens ein wenig, sonst fängt der ganze Mist an zu schimmeln.
Seit ich Angie die Bären-Kampagne abgesagt habe, ist Funkstille zwischen uns. Ein paar Wochen lang konnte ich mir einreden, dass sonst keine Castings anstehen, dass Sommerloch eben Sommerloch ist, egal in welcher Branche. Aber es steht eine Entscheidung aus. Mehrere eigentlich. Aber diejenige, die meine sogenannte Medienkarriere betrifft, scheint mir am einfachsten zu treffen.
Ich muss Angela nur die vor Monaten gestellte Frage beantworten. Was will ich von ihr? Von der Agentur? Von mir selbst als potentielles »Face«
.
Puh, wenn ich das Wort »Face« denke, raschelt das ganze Laub in mir besonders laut.
Und plötzlich ist alles sehr schwarz und weiß: Ich will nichts! Daumen ab! Hans-Guck-in-die-Luft ertrunken, das zündelnde Paulinchen verbrannt, der Suppen-Kasper verhungert. Zack!
Ich wähle Angelas Nummer.
»Ich will nichts!«, sage ich, nachdem sie sich gemeldet hat.
»Wer ist da?«, fragt Angie, augenscheinlich angeschlagen von irgendeiner Party, auf der es vermutlich Jägermeister-Red-Bull oder ähnlich aufregendes Zeug gab.
»Luise. Und ich will nichts!« Ganz euphorisiert von meiner eigenen Fabelmoral zappele ich, in einer Hand mein Telefon, in der anderen den inzwischen leergegessenen Kuchenteller, vor dem Café herum.
»Wovon sprichst du, Luise?«, fragt Angela,
Angie
, eher genervt.
»Ich habe über deine Frage nachgedacht! Darüber, was ich von dir als Agentin und von den fancy Möglichkeiten der Medienwelt will. Und ich weiß es jetzt. Ich will nichts!« Ein Teil von mir möchte jetzt gern belohnt werden. Belohnt dafür, eine Entscheidung getroffen zu haben, vielleicht sogar dafür, überhaupt endlich mal Angelas Frage beantwortet zu haben. Ich fühle mich, als hätte ich ein besonders kompliziertes Rätsel gelöst, vielleicht sogar ein kleines Tier gerettet. Ich bin stolz!
Angela macht keinen Mucks, nur Rauchergeräusche. Ich nehme an, sie ist grade erst aufgestanden und trinkt jetzt erst mal einen Irgendwas-Macchiato und raucht die erste Zigarette des Tages.
»Hallo?«, frage ich.
»Sorry, hab mir grade einen Espresso gemacht.«
»Macchiato?«, frage ich.
»Ja.« Check.
»Hast du mir überhaupt zugehört?« Ich zapple nicht mehr, sondern setze mich auf das breite Schaufensterbrett des Cafés.
»Natürlich habe ich das. Ich weiß nur nicht, was ich dazu sagen soll. Willst du Applaus?«
»Nein.« Doch.
»Was dann? Für mich ist diese Ansage, bei allem Respekt, nicht neu. Du hast mir das schon hundertmal gesagt.«
»Was? Das stimmt nicht! Wann habe ich das denn gesagt?«, ich werde unentspannt.
»Nun, nie mit Worten, aber oft genug mit deinem Verhalten. Du benimmst dich bei jedem Casting kontraproduktiv, du sagst fast jede Anfrage ab. Deutlicher könntest du nicht klarmachen, dass du nichts willst.«
Angela hustet ein fieses Katerhusten, aus dem Partyhinterzimmer des Cafés höre ich schwach, aber eindringlich Udo Jürgens, »Mit 66 Jahren«. Schon klar: Zweimal 33 ist 66 , verstehste, Rieke? Darauf einen Cupcake, aber warte! Erst schnell ein Foto davon machen!
Am liebsten würde ich einen dreifachen Polnischen machen. Am Telefon, im Café und, ehrlich gesagt, auch kurz mal im Leben. Einfach weg, ohne Bescheid zu sagen. Sollen sie doch alle rumstehen und sich wundern oder eben nicht.
Stattdessen sage ich zu Angela: »Nun denn. Jetzt hast du es auch mündlich. Ich habe kein Interesse mehr daran, in einer Agentur zu sein. Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, aber der ganze Quatsch ist nichts für mich, fürchte ich.
Weiß
ich.«
»Ehrlich gesagt, habe ich dich schon nach der Bären-Sache aus der offiziellen Kartei genommen«, sagt Angela mit einer Stimme, die man hat, wenn man grade Rauch eingeatmet, ihn aber vor dem Sprechen noch nicht wieder rausgelassen hat. »Dir ist aber klar, dass uns laut Vertrag noch ein Jahr lang fünf Prozent von allen Folgeaufträgen zustehen, oder?«
Ich
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