Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kuttner
Vom Netzwerk:
hole Zigaretten.
     
    Später am Abend sitzen wir auf dem fertig bepflanzten Balkon und essen Buchstabentütensuppe zum Abendbrot. »Schön sieht das aus«, sage ich mit einer halben Scheibe Brot im Mund. »Nenn mich nicht Klaus«, sagt Flo und streckt mir die Zunge raus. Ich verkneife es mir, angesichts dieser zarten Geste noch mal über Männlichkeit im Allgemeinen zu reden, und wiederhole einfach nur, dieses Mal mit leerem Mund, mein Kompliment. »Ah. Danke. Find ich auch. Sehr erwachsen so eine Herbstbepflanzung, oder?«
    »Sehr!«, stimme ich zu. »Vielleicht sollten wir ein paar schmutzige Worte in die Suppe legen, um das Ganze ein wenig zu neutralisieren.«
    »Gute Idee«, sagt Flo und isst einfach weiter.
    Ich scheitere an den nötigen Buchstaben, um »Motherfucker« zu legen, und biete daher nur ein wenig eindrucksvolles
Po
an.
    Flo lächelt, steht auf und geht in die Wohnung.
    Wir
-Zeit. Schon wieder. Allerdings gute
Wir
-Zeit. Wenn ich also den Unterschied zwischen guter und schlechter
Wir
-Zeit nicht richtig ausmachen kann, wie soll Flo es dann können? Erwarte ich vielleicht doch zu viel von ihm? Oder von uns?
    Flo kommt wieder und hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Welche Hand?«, fragt er und freut sich jetzt schon so sehr über was auch immer hinter seinem Rücken versteckt ist, dass es mir ein wenig im Herzen knirscht.
    »Du kannst nicht
beide
sagen!«, sagt Flo, als ich grade den Mund aufmache, um »beide!« zu sagen.
    »Was ist, wenn mir rechts nicht gefällt, kann ich dann links haben?«, versuche ich zu verhandeln.
    »Nope«, schmettert Flo ab, aber das Grinsen in seinem Gesicht ist so irre, dass es ihm eigentlich weh tun müsste, also gehe ich davon aus, dass ich alles hinter seinem Rücken super finden werde, und entscheide mich für links.
    Gute Wahl, denn links gibt es Eis. Kiffereis mit kleinen Schokofischen und Karamell und Marshmellowstücken drin. »Geil!«, sage ich mit meiner besten Kifferimitationsstimme, nehme das Eis und gebe einen Kuss. Geben und nehmen. Sagt man ja so.
    Flo freut sich, dass ich mich freue, und holt aus der rechten, inzwischen wohl etwas kalt gewordenen Hand das gleiche Eis hervor und streckt es mir wie einen wertvollen Stein entgegen. »Zwei?«, frage ich mit hysterischem Unterton, und Flo kuckt streng und sagt: »Ja. Wir werden sehen, wie weit du kommst.«
    Und dann sitzen wir einfach noch ein bisschen frierend auf dem Balkon und weigern uns, rein ins Warme zu gehen, schließlich muss hier die brandneue Herbstbepflanzung noch ausreichend gewertschätzt werden, und essen Eis und rauchen und reden über Arne und Thea und warum die beiden heiraten.

Memo
    Ich kann nicht atmen! Als wärest du meine Lunge und jemand hätte meinen Organspenderausweis gefunden und sie mir einfach entnommen, ohne nachzusehen, ob ich überhaupt noch lebe, und ich lebe doch aber noch, und ich brauche meine Lunge, und jetzt ist sie weg und bist du weg, und ich kann nicht mehr atmen. Dauernd liege ich irgendwo rum und krümme mich wie ein angefahrenes Tier und brauche so dringend Luft, aber alles, was reingelangt, sind Schmerzen, und wenn ich sie, wenn sie schon so tun, als wären sie Luft, auch wieder ausatmen will, bleiben sie einfach drin und werden immer mehr!
    Und ich kann gar nicht richtig weinen! Ist das nicht absurd? Sonst fange ich bei jedem Scheiß an zu heulen. Weißt du noch, als ich bei dieser schlimmen Sendung, die dem 100 . Geburtstag von Nena gewidmet war, die wir nur gesehen haben, um sie zu hassen, ganz plötzlich angefangen habe zu weinen, weil sie dieses eine Lied gesungen hat? Du fandest das rührend und hast mich in den Arm genommen und ganz viel geküsst und gesagt: »Du bist ja wohl die Süßeste!«, aber ich habe mich (unter Tränen!) furchtbar geschämt. Und jetzt, wo ich so gerne will, vermutlich dringend sollte, kann ich einfach nicht. Jana war neulich da und nahm mich in den Arm und sagte: »So, jetzt lass mal alles raus!«, und ich hing an ihrem Hals und hab gelacht, weil der Satz so lächerlich klang, als wenn Jana Therapie üben würde, dabei schrie alles in mir: Ja! Raus! Bitte raus! Und so hing ich da und presste und drückte und wollte dem ganzen Scheiß in mir einen Weg nach draußen ebnen, aber irgendwie geht es immer nur bis zur Brust, und wenn es da angekommen ist, verkeilt es sich und geht in keine Richtung mehr weiter, und ich kann nicht weinen und nicht atmen und nur wie unter Krämpfen zucken, als würde mein Körper, wie um mir eine

Weitere Kostenlose Bücher