Wachstumsschmerz
ich mich zum ersten Mal nicht wohl in meiner Herbsthaut. Alle Bäume in mir werfen ihr Laub ab, aber keiner kommt zum Harken vorbei, so dass alles furchtbar unordentlich ist und es dauernd raschelt.
Ich häufe wie diese fleißige Fabel-Ameise seit Monaten ungeklärte Befindlichkeiten an und bin aber gleichzeitig die hedonistische Heuschrecke, die den ganzen Sommer über nur Quatsch gemacht und nun nix zu fressen hat.
»Willst du was vom Kuchenbuffet?«, fragt mich Rieke, die Augen noch ganz nass. Ich sehe rüber zu der mit bunten IKEA -Servietten verzierten Bierbank, auf der mehrere Tabletts und Teller voller Cupcakes stehen. Mädchenkuchen. Von Studentinnen, die, seit dieser furchtbare Trend aus Amerika rübergeschwappt ist, ganz aus dem Häuschen sind und nichts anderes mehr backen. Wie oft ich schon kunstvolle und hochauflösende Beautyshots von diesen blöden bunten Kuchen auf diversen Mädchen-Blogs gesehen habe. Cupcakes sind nur viel zu süße und aufwendig verkleidete Muffins. Und ich kann Muffins schon nicht leiden. Was ist aus dem guten alten Streuselkuchen geworden? Oder Marmorkuchen? Vielleicht hat Rieke auch gar nicht wegen des Geschenkgutscheins geweint, sondern wegen der geballten »Sex and the City«-Stimmung hier im Raum. Absurderweise wirkt hier nämlich niemand deplatzierter als Rieke mit ihrem übergroßen Kinski-Shirt und den schmuddeligen Turnschuhen. Und dennoch ist sie glücklich. Kann ihren persönlichen Geschmack hinter die große Geste stellen und sich freuen. Obwohl die Musik aus dem iPod eines Mädchens kommt, das James Blunt für den emotionalsten Künstler der letzten zehn Jahre hält.
»James Blunt ist echt der emotionalste Künstler der letzten zehn Jahre!«, sage ich und blicke Rieke sehr ernsthaft an.
Rieke blickt ernsthaft zurück, nickt und sagt: »Da ist viel Wahres dran. Ich habe dir übrigens ein Stück Rhabarberkuchen zurückgelegt. Von meiner Mama. Ohne buntes Hütchen, keine Liebesperlen oder Schokoherzen. Interessiert?«
»Voll!«, sage ich und widerstehe nur knapp dem Bedürfnis, an meinen Augen rumzufächeln. Rieke verschwindet und kommt wenig später mit einem Teller zurück, auf dem ein flaches, matschiges und farbloses Stück Kuchen liegt.
»Du kennst doch diese Fabel von der Ameise und der Heuschrecke, oder?«, frage ich mit vollem Mund. Rieke nickt nur und versucht, sich ein Stück von meinem Kuchen mit den Fingern zu nehmen, scheitert aber an dessen wunderbarer Glitschigkeit.
»Ganz ehrlich: Wer von den beiden ist das schlauere Tier?«
Rieke pult weiter in meinem Kuchen rum und denkt nach.
»Mir ist schon klar, dass die Moral von der Geschichte ist, dass die Ameise die coolere Sau ist, weil sie vorgesorgt hat und zusätzlich noch der vollkommen verzogenen Heuschrecke hilft, aber ist sie deshalb echt der bessere Mensch?«
»Insekt«, korrigiert mich Rieke und denkt weiter nach. Schließlich sagt sie: »Ich bin gar nicht sicher, ob das tatsächlich die Moral von der Geschichte ist.«
»Was denn bitte dann?«, frage ich ehrlich verwundert.
»Na ja, vielleicht dass eine Mischung ganz schlau wäre. Die Ameise hat zwar die Bude voller Futter, aber keinerlei soziale Kontakte geknüpft. Und die Heuschrecke hatte den Sommer ihres Lebens, vermutlich die 5000 -Freunde-Marke bei Facebook erreicht, aber keinerlei Sicherheiten. Klingt so, als wäre keines der beiden Lebensmodelle hundertprozentig erstrebenswert.«
»Die Moral von der Geschichte ist also: beides nicht so richtig cool? Was ist das denn für eine Wischiwaschi-Moral?«
Ich bin erschüttert. Was ist aus den klaren Ansagen von Fabeln und Märchen geworden? War die Moral dieser Fabel schon immer so unklar, oder ist es nur moderner Interpretationsspielraum, der aus dem schönen Schwarz und Weiß plötzlich verschiedene Grautöne macht? Vorbei die Zeiten, in denen Konrad, dem Daumenlutscher, nach mehreren missachteten Warnungen einfach vom Schneider mit einer übergroßen Schere der Daumen abgeschnitten wird. Und die Geschichte vom Zappel-Philipp endet dieser Tage wohl auch nicht damit, dass der hibbelige Junge irgendwann vom gesamten Familienabendbrot bedeckt auf dem Boden liegt, sondern dass seine Eltern ihn voller Sorge und Liebe auf ADHS untersuchen lassen.
»Wann ist denn nur alles so kompliziert geworden?«, frage ich Rieke und mag nicht, wie abgenutzt diese Frage klingt. Dennoch stellt sie sich. In letzter Zeit immer lauter.
Rieke setzt zum Nachdenken an, wird aber von zwei kreischenden
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