Wachstumsschmerz
Freude zu machen, nur so tun, als würde ich weinen und atmen.
Warum funktioniert Überlebenswichtiges denn nicht ohne dich? Weshalb bin ich auf einmal so wenig ohne dich? Wieso bin ich nur noch die Hälfte? So darf das doch nicht sein, dass man nur noch die Hälfte ist! Sollte man nicht immer ein Ganzes sein? Mit oder ohne den anderen muss man doch immer ein Ganzes sein, sonst fällt man doch um!
Und wie ich umgefallen bin! Hingefallen bin ich. Weißt du noch, wie ich doofen Leuten immer wünsche, dass sie hinfallen? Weil ich irgendwann ein schlechtes Gewissen bekommen hatte, wenn ich ihnen wirklich schlimme Sachen gewünscht hatte. Falls sie wahr werden. Also wünsche ich allen, denen ich Schlechtes wünsche, dass sie hinfallen. Würde dies wirklich geschehen, könnte ich gut damit leben.
Und jetzt bin ich hingefallen. Wer von den doofen Leuten hat sich das gewünscht?
Kannst du atmen?
Fühlst du dich ganz oder halb oder hingefallen?
Oder fühlst du dich nur wie jemand, der jemanden sieht, der hingefallen ist?
Tut dir all das leid oder weh?
R ieke sieht überwältigend aus, wenn sie weint. Sie steht auf schiefen Stöckchenbeinen mitten im Raum und weint zwei schmale, stete Flüsse. Kein affiges Anfächeln der Augen, kein kokettes Abwinken und Taschentuchgetupfe um die geschminkten Wimpern herum, sondern schöne, gradlinige, glitzernde Bäche, die, an ihrer roten Nase vorbei, aus ihren Augen laufen. Um uns herum wird gerührt gekichert und gehüstelt, und man klopft Rieke die schmalen Schultern und reicht Taschentücher und sagt, dass es doch keinen Grund gibt zu weinen. Nur ich sitze rum und glotze, ganz versteinert von so viel klarer Schönheit.
Von außen betrachtet, gibt es tatsächlich keinen Grund zu weinen. Rieke ist heute dreiunddreißig geworden, und all ihre Studentenfreundinnen haben für einen enormen Gutschein zusammengelegt, von dem sie einkaufen gehen kann. Rieke hat nie besonders viel Geld, das wenige, was sie hat, gibt sie für Kippen und Bücher aus, und sie war schon sehr lange nicht mehr shoppen, so dass sie jetzt ganz gerührt ist. Freudentränen also, klarer Fall. Dennoch kann ich nicht wegsehen. Irgendetwas an diesem mir so gut bekannten weinenden Mädchen gibt mir winzige Stromstöße. Schmerzhaft und ein bisschen angenehm und dann wieder schmerzhaft. Wie eine nur semiprofessionell durchgeführte Akupunktur.
So sitze ich nun in dem extra für das Überraschungs-Geburtstags-Kaffee-und-Kuchen-Kränzchen angemieteten Café, rühre in meinem Tee und starre die weinende Rieke an. Der Solidarität, die solch eine Situation erfordert, folgend, fächern nun ein paar Mädchen neben mir an ihren Augen rum, recht erfolgreich, soweit ich das beobachten kann, denn der kleine Wind, der so produziert wird, hält diverse Freundinnenaugen staubtrocken, während man sich gegenseitig versichert, wie rührend die weinende Rieke sei und dass man jetzt aber auch gleich mitweinen müsse, generell würde man ja in letzter Zeit dauernd anfangen zu weinen, besonders wenn andere weinen.
Ich fächele automatisch auch und sage »Stimmt!« und »Och, Mensch!« und kann dabei aber die Augen und Gedanken nicht von Rieke abwenden, und die Nadelstiche piksen mich und lassen mich nicht vergessen, dass das alles Mist ist. Denn ich muss grad gar nicht weinen, und wenn ich weinen muss, dann sehe ich nicht so aus wie Rieke. Nämlich schön und klar und herzzerreißend ehrlich.
Und diese Klarheit, die mein Geburtstagsmädchen da so aus den Augen strömen lässt, ist wohl der eigentliche Grund für meine Akupunkturschmerzen.
Ich habe das Gefühl, Ballast abwerfen zu müssen. Obwohl es draußen immer kälter wird, steht mein Leben immer noch leicht bekleidet vor meiner Tür und glotzt erwartungsvoll und gleichzeitig mahnend. Ich bin kein besonders wetterfühliger Mensch. Schlechtes Wetter macht mir keine schlechte Laune. Ich bin immer wieder ganz verliebt in die Klimazone, in der ich lebe. Ich liebe es, dass es vier relativ ausgeglichene Jahreszeiten gibt. Und ich mag jede einzelne von ihnen sehr. Vier Jahreszeiten bedeutet, dass man sich viermal im Jahr auf das kommende Wetter freuen kann, und immer dann, wenn man die Schnauze voll von der aktuellen Jahreszeit hat, steht schon die nächste unten im Hausflur und drückt schon mal den Fahrstuhlknopf. Und während der Herbst bereits oben in der Wohnung ist, es draußen anfängt, nach Ofenheizung zu riechen, und die große Zeit der Einigelung eingeläutet wird, fühle
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