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Wachtmeister Studer

Wachtmeister Studer

Titel: Wachtmeister Studer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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haben Sie da getrieben, Fräulein Witschi?«
    »Ich bin mit dem Erwin spazieren gegangen«, sagte Sonja und ihr Gesicht blieb bleich. »Wir waren zusammen im Wald, es war ein schöner Abend. Ich bin um elf Uhr heimgekommen. Der Vater war noch nicht zu Hause. Die Mutter ist am Tisch gehockt, in der Küche. Sie schien aufgeregt. Auch der Armin war nicht zu Hause. Ich hab' gefragt, wo die beiden seien. Die Mutter hat die Achseln gezuckt. ›Draußen‹, hat sie gesagt. Um halb zwölf ist der Armin heimgekommen. Die Mutter hat gefragt: ›Hat er?…‹ Der Armin hat genickt und begonnen seine Taschen zu leeren.«
    »Halt!« rief der Untersuchungsrichter. »Herr Studer, schreiben Sie bitte.« Und er diktierte nach den einleitenden Floskeln jedes Zeugenverhörs Sonjas Erzählung.
    »Weiter«, sagte er darauf. »Inhalt der Taschen?«
    »Eine Browningpistole, eine Brieftasche, ein Füllfederhalter, ein Portemonnaie, eine Uhr. Das alles legte der Armin auf den Tisch. Ich hab' gezittert vor Angst. ›Was ist dem Vater passiert?‹ hab' ich immer wieder gefragt. Aber die beiden gaben keine Antwort. Armin öffnete die Brieftasche und zog eine Hunderter und eine Fünfzigernote heraus. Die Mutter nahm sie, ging zum Sekretär, versorgte die Fünfzigernote und kam mit drei Hunderternoten zurück. Armin nahm das Geld, legte es auf den Tisch und sagte: ›So, jetzt mußt du zuhören und morgen genau das tun, was ich dir sage. Der Vater hat sich erschossen.‹ ›Nein‹, hab ich gerufen und hab' angefangen zu weinen. ›Nein! Das ist nicht wahr!‹
    ›Plärr jetzt nicht und hör' zu. Der Vater hat gefunden, es sei so das beste für ihn. Aber er hat mit uns ausgemacht, mit der Mutter und mir, daß es nicht als Selbstmord gelten darf. Denn wenn es ein Selbstmord ist, so zahlt die Versicherung nichts.‹ – Ich weinte. Dann sagte ich: ›Aber das werden die Leute doch merken, daß er sich erschossen hat. Das geht doch in Romanen, aber nicht in der Wirklichkeit!‹ Hab' ich da nicht recht gehabt, Herr Wachtmeister?«
    »Hm, vielleicht, ja…«, murmelte Studer und beschäftigte sich eifrig mit dem eingespannten Folioblatt. Die Linien waren schief.
    »Das hab' ich dem Armin auch gesagt, und ob er es hat übers Herz bringen können, daß sich der Vater für uns umbringt, hab' ich ihn gefragt… Da sagte er, sie hätten mit dem Vater ausgemacht, er solle sich nur anschießen, sich eine schwere Verletzung beibringen, dann bekäme er auch die Versicherung für Ganzinvalidität – sich ins Bein schießen zum Beispiel, sagte der Bruder, aber so, daß das Bein amputiert werden müsse… Das hat er gesagt, der Bruder…«
    Verrückt, idiotisch, hirnverbrannt!« flüsterte der Untersuchungsrichter, streckte die Arme aus, daß die Ärmel seines Rockes fast bis zu den Ellbogen rutschten, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Das ist ja… Was sagen Sie dazu, Studer?…«
    Locard, Doktor Locard in Lyon, Sie wissen, wen ich meine, Herr Untersuchungsrichter, schreibt in einem seiner Bücher – (und mein Freund, der Kommissär Madelin, zitierte diesen Ausspruch mit Vorliebe) – es sei ein Irrtum, zu glauben, es gebe normale Menschen. Alle Menschen seien mindestens Halbverrückte und diese Tatsache dürfe man in keiner Untersuchung vergessen… Erinnern Sie sich vielleicht an den Fall jenes österreichischen Zahntechnikers, der sein Bein auf einen Spaltklotz legte und es mit einer Axt bearbeitete, bis es nur noch an einem Fetzen hing – nur um eine sehr hohe Unfallversicherung einzukassieren… ? Es gab damals einen großen Prozeß…«
    »Ja, ja«, sagte der Untersuchungsrichter. »In Österreich! Aber wir sind doch in der Schweiz!«
    »Die Menschen sind überall gleich«, seufzte Studer. »Was soll ich schreiben?«
    Stockend diktierte der Untersuchungsrichter, aber seine Sätze verfilzten sich derart, daß Studer Mühe hatte, diese Syntax zu entwirren…
    »Weiter, weiter! Fräulein Witschi!« Der Untersuchungsrichter wischte sich die Stirn mit einem kleinen farbigen Taschentuch, ein Duft von Lavendel schwebte durch den Raum…
    Sonja war verschüchtert. Sie hatte nicht verstanden, was da verhandelt wurde. Verrückt? dachte sie, warum verrückt? Wenn wir doch das Geld so notwendig gebraucht haben!… Und dann erzählte sie weiter:
    »Da fragt die Mutter ganz kalt: ›Wo sitzt der Schuß?‹ – Und der Armin antwortet genau so kalt: ›Hinter dem rechten Ohr.‹ Da nickt die Mutter, wie anerkennend: ›Das hat er gut gemacht, der

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