Wächter der Seelen / Gefährlich wie ein Engel. Roman
Kauz sei ein Erzengel? Aber waren Erzengel denn nicht die schönsten aller Engel?
Der alte Mann heftete seinen Blick auf sie und zwinkerte ihr mit seinen wässrigen Augen zu. »Nicht ganz das, was Sie erwartet hatten, hm?« Er klopfte auf seine hellgelbe Weste. »Nun, all das ist nur eine Illusion. Aber ich schlüpfe ziemlich gern in diese Rolle. Sie hat einen hölzernen Charme, den ich nicht besitze.« Die Belustigung in seinen Augen verlor sich. Und innerhalb eines Wimpernschlags war der kleine, drahtige Herr verschwunden. An seine Stelle war ein großer Mann mit langem blonden Haar getreten, der es irgendwie schaffte, einen blütenweißen Anzug mit zurückhaltender Eleganz zu tragen. Die Augen, die von einem tiefen Lapislazuliblau waren, hoben sich gegen die leichte Bräune des Gesichts ab und verliehen seinem Antlitz eine eindringliche Intensität – fast schon ein Glühen. »Tritt vor, Lachlan MacGregor.« Lachlan versuchte, sich von Rachels Hand zu befreien, während er vor den Engel trat, doch sie wollte nicht loslassen. Michael runzelte die Stirn angesichts Rachels Weigerung, sich von Lachlan zu trennen, ignorierte sie ansonsten aber. »Ich freue mich sehr, dass ich recht behalten habe. Seitdem du ein Seelenwächter bist, hast du fortwährend schwierige, aber rechtschaffene Entscheidungen getroffen. In der Höhle hattest du die Chance, dich der Verzehrenden Magie zu bedienen, um Drusus zu bezwingen – eine Alternative, die sicherlich viele an deiner Stelle gewählt hätten. Du jedoch entschiedest dich dagegen. Stattdessen verließest du dich auf deine eigenen Fähigkeiten und dein mutiges Herz.« Michael legte eine Pause ein. »Der Mann, der du einst warst, hätte diese Entscheidung nicht gefällt. Du hast dich als ehrenhafte Seele erwiesen.«
»Danke, Eure Heiligkeit.« Lachlan schluckte.
Der mächtigste unter Gottes Engeln streckte Rachel die Hand entgegen. »Das Reliquiar, wenn du so nett sein würdest.« Rachel händigte ihm die Ampulle aus. Michael brach das Glas mitten entzwei, und ein Streif weißen Lichts quoll daraus hervor, wirbelte einige Male um ihn herum und löste sich über seinem Kopf in Luft auf. Die Bruchstücke des Reliquiars verschwanden. »Deine Familie weilt nun auf der oberen Ebene«, sagte er.
Lachlans Griff schloss sich fester um Rachels Hand, seine Finger zitterten leicht, und sie erwiderte den Druck.
»Und jetzt«, fuhr Michael fort, »lasst uns diesen Saustall hier aufräumen.« Er erhob beide Hände, und auf einmal war die graue Steinwand nicht mehr da. Alle, die sich in dem Raum dahinter befanden, fuhren fast zeitgleich herum und starrten an Michael vorbei auf die Herrin des Todes. Der Schrecken stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch Ihre Majestät blieb bewegungslos auf ihrem Platz am Fenster stehen.
»Emily, komm her zu mir.« Doch wie sich herausstellte, war Rachels Aufforderung überflüssig. Wenn auch noch etwas bleich und mitgenommen, umrundete Em schleunigst den riesigen Eichentisch und lief auf ihre Mutter zu.
Michael machte über Ems Stirn das Zeichen des Kreuzes, und sofort wurden ihre Augen klar und hellten sich auf. Die letzten Nebel der Verzauberung verflüchtigten sich. Em legte den Kopf schief und betrachtete den großen Mann. »Cool«, sagte sie nur.
Der Engel fasste sie am Kinn und untersuchte ihre rechte Wange. Wie aus dem Nichts erschien auf der blassen Haut eine weiße Spirale, dünn und grausam. »Das Mal des Todes. Wie bedauerlich.« Er sah zu Rachel. »Es ist ein Urzauber, der seit dem Anbeginn der Zeit existiert. Ich fürchte, selbst Gott hat nicht die Macht, ihn zu entfernen.«
All die Hoffnung, die Rachel gehegt hatte, zerfiel zu Staub.
»Trotzdem«, fuhr Michael mit einem tiefen Seufzer fort, »gibt es etwas, das Er unternehmen kann. Er tut es natürlich nicht gern, denn das Ganze hat einen Pferdefuß, aber schließlich hat Er keine große Wahl.«
Rachels Herzschlag setzte wieder ein. Sie kreuzte die Finger.
»Kraft der Macht, die mir von unserem Allerheiligsten Gott verliehen wurde« – Michael legte einen schmalen Finger auf Ems Wange, und fast unverzüglich begann die Haut darunter hellblau zu glühen –, »segne ich dich mit dem Mal des Lebens.« Und über der perlweißen Spirale, die die Herrin des Todes dort platziert hatte, nahm ein zweites Symbol Gestalt an: der Umriss einer Eiche. Als der Erzengel die Hand wieder sinken ließ, mischten sich beide Symbole ineinander und verbanden sich zu einem.
»Bist du verrückt?« Ihre
Weitere Kostenlose Bücher