Wächter des Elfenhains (German Edition)
gekommen, sein gesamtes Volk, um Abschied von Tigarain und den anderen zu nehmen, die so grausam und unvermittelt aus ihrer Mitte gerissen worden waren. Ihre Leichen lagen, aufgebahrt in einem Meer aus Blumen und Gräsern, im Zentrum des weiten Platzes, hatten ihre bleichen Gesichter dem Himmel und der Sonne zugewandt, deren sanfter Schein sie nicht länger zu wärmen vermochte.
Ermordet von Ogaire. Wie so viele andere. In kalter Wut presste Neanden seine Lippen aufeinander, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er stand ganz am Rande der Lichtung, beinahe schon zwischen den Bäumen, und lauschte stumm dem bitteren Wehklagen, das die Luft erfüllte, starrte mit versteinertem Gesicht auf die gebeugten Schultern und gramverzerrten Mienen jener, die sich in ihrem Schmerz und ihrer Trauer um die Toten verzehrten. Jedes Schluchzen, jede Träne, die im Sonnenlicht auf blassen Wangen glitzerte, vergrößerte seine Wut, ließ sein Gesicht noch starrer und regloser werden.
Das Bild einer anderen Totenwache brannte in seinen Augen, einer anderen Lichtung. Eines anderen Mitglieds ihrer Gemeinschaft, das sein Leben für sein Volk und den Hain gegeben hatte. Und doch hatte er niemanden von denen, die sich nun mit so viel Inbrunst ihrem Kummer hingaben, auf jener Lichtung gesehen. Niemand war gekommen, um um seinen Vater zu weinen, niemand – außer seiner Mutter und Maifell.
Neanden knirschte mit den Zähnen. Sollten sie doch an ihrer Arroganz und Borniertheit ersticken! Die Ablehnung, die seinem Vater und seiner Familie von denen, die sie einst so sehr geliebt und respektiert hatten, entgegengebracht worden war, schmerzte ihn mehr, als er es sich bisher hatte eingestehen wollen. Doch das war noch nicht einmal das Schlimmste. Ihre Verachtung und die Kälte in ihren Augen hätte er vielleicht noch ertragen, sie möglicherweise sogar verstehen können; der Hass und der blutige Hunger, die er in ihren Herzen spürte, würden ihn stets mit Abscheu erfüllen.
Trotz seiner Wut rann ein eisiger Schauer seinen Rücken hinab, und er hätte sich am liebsten fröstelnd die Arme um den Leib geschlungen. Wie hatte die Situation im Hain in so kurzer Zeit nur auf eine derart erschreckende Weise eskalieren können? Er war ein Narr gewesen zu glauben, Maifells heldenhafter Einsatz an jenem Tag, als Andion mehr tot als lebendig aus den Nebeln zwischen den Welten gestolpert war, hätte die Macht besessen, irgendetwas an der Wahrnehmung seines Volkes zum Positiven zu verändern. Ein Narr zu hoffen, auf einem Feld, das beinahe hundert Jahre lang von Bitterkeit und Hass verdorrt und vergiftet worden war, könne etwas anderes gedeihen als neuer Hass und neues Misstrauen, als Furcht und Kleinmut und die blinde Gier nach Vergeltung.
Es war ein Fehler, den er kein zweites Mal begehen würde. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihm mit brutaler Deutlichkeit vor Augen geführt, wie tief der Abgrund zwischen ihm und dem Rest seines Volkes tatsächlich geworden war. Bereits der erste Tote hatte genügt, um die dünne Tünche aus widerwilliger Akzeptanz und zaghaftem Vertrauen von Neuem aufbrechen und die hässliche Fratze der Angst darunter hervortreten zu lassen – eine Angst, die beim geringsten Anlass in offene Gewalt umschlagen und die gramgebeugten Trauernden auf der Lichtung binnen eines Herzschlags in einen geifernden, blutgierigen Mob verwandeln würde, einen Mob, der alles, was sich ihm in den Weg zu stellen wagte, vernichten und erst dann wieder zur Besinnung kommen würde, wenn dieser Albtraum schließlich ein weiteres Opfer gefordert hatte.
Neanden gab sich diesbezüglich keinen Illusionen hin. Viele gaben Andion bereits jetzt die Schuld an den mysteriösen Todesfällen, und die winzige Schar jener, die noch zur Besonnenheit mahnten, schrumpfte mit jedem weiteren Tag.
Neanden ließ seinen Blick grimmig über die Anwesenden wandern. Wie konnten diese Dummköpfe im Ernst annehmen, Andion könne etwas mit dem plötzlichen Sterben im Hain zu tun haben? Es mochte eine Sache sein, seine finsteren Absichten vor den anderen zu verbergen, doch unter den Augen der gesamten Gemeinschaft einen Todeszauber zu wirken, war etwas völlig anderes. Eine solche Tat wäre niemals unbemerkt geblieben, erst recht, wenn man bedachte, dass er selbst und Gairevel Andion als seine Wächter keine Sekunde lang von der Seite gewichen waren. Andion mochte ja Ogaires Sohn sein, aber er war trotz allem nur ein Junge , dazu noch nicht einmal ein richtiger Elf.
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