Wächter des Elfenhains (German Edition)
Selbst wenn er es gewollt hätte, wäre er viel zu schwach, um über eine derartige Magie zu verfügen, von dem Willen, sie gezielt und kompromisslos einzusetzen, ganz zu schweigen.
Neanden schüttelte stumm den Kopf und starrte finster zu Boden. Nach all dem Schmerz und der Verzweiflung, die er in den vergangenen Wochen in seiner Seele gespürt hatte, traute er Andion eine solche Grausamkeit einfach nicht mehr zu. Er hatte zu viel eigenes Leid erfahren, um das Leben anderer auf diese Weise zerstören zu können. Maifell hatte das immer gewusst, und nun, endlich, wusste er es auch.
Als hätte der Gedanke an Andion und Maifell etwas in ihm berührt, das er bisher nur unterschwellig wahrgenommen hatte, runzelte Neanden die Stirn, hob den Kopf und ließ seinen Blick, von plötzlicher Unruhe erfüllt, über die Menge der Versammelten schweifen. Er wusste nicht, was genau ihn alarmiert hatte, er spürte nur, dass etwas nicht so war, wie es eigentlich sein sollte. Es war, als sei plötzlich ein neuer Ton in der Totenklage der Elfen aufgetaucht, der zuvor nicht darin enthalten gewesen war, oder als sei eine Stimme, die ihn während der gesamten Zeit auf der Lichtung wie ein kühlender Lufthauch umschmeichelt und die fiebrige Qual seines Zorns und seiner Furcht gelindert hatte, mit einem Mal daraus verschwunden, ohne dass er etwas davon bemerkt hatte.
Neandens Augen verengten sich. Angespannt spähte er umher, suchte mit klopfendem Herzen nach Anzeichen einer Veränderung – und erstarrte in jähem Entsetzen, als ihm unvermittelt klar wurde, welches Detail des Bildes nicht mehr mit dem Rest der Szenerie übereinstimmte. Maifell war fort; der Platz, an dem sie, nur wenige Meter von ihm entfernt, gerade eben noch gestanden hatte, war leer.
Ebenso wie der von Gairevel. Für einen Moment vermochte Neanden sich nicht zu rühren, als eisige Furcht sich in sein Herz fraß und jedes Gefühl und jeden seiner Gedanken lähmte. Wann, bei allen Bäumen, waren die beiden verschwunden? Wie viele Minuten waren verstrichen, seit er Maifells zarte, wehmütige Stimme das letzte Mal gehört, den Schimmer ihres goldenen Haars in der Morgensonne bewusst wahrgenommen hatte? Er hätte es nicht zu sagen gewusst. Er wusste nur, dass sich Andion in größter Gefahr befand.
Der Gedanke an Gairevel und die unheilvolle Wandlung, die er in den vergangenen Tagen an dem stolzen Elfenkrieger beobachtet hatte, ließ Neanden kalten Schweiß aus jeder Pore seines Körpers dringen. Niemals hätte er für möglich gehalten, dass gerade Gairevel, den er stets für seine stille Würde und seinen unbeugsamen Willen zum Leben bewundert hatte, so sehr von seinem Zorn und seiner Angst hatte verzehrt werden können. Und doch hätte es ihn vermutlich nicht überraschen dürfen. Als Ogaire vor 90 Jahren seine Frau und seinen Sohn ermordet hatte, hatte Gairevel zu wenig Schneid besessen, um sich so wie Ionosen offen gegen die Weisungen des Rates aufzulehnen und dem Ungeheuer in die Menschenwelt zu folgen. Hier im Hain jedoch würde er alles tun, um Rilcaron und die übrigen Ältesten vor einer Bedrohung ihres Lebens zu schützen. 90 Jahre lang hatte er seine Entschlossenheit und seinen kompromisslosen Willen zum Kampf in sich genährt, hatte sie zu einer kalten, tödlichen Klinge geformt, ohne Hoffnung, dem langsamen Sterben seines Volkes jemals Einhalt gebieten zu können. Nun, nach einem Jahrhundert qualvoller Untätigkeit, hatte die Klinge endlich ein Ziel gefunden. Vermutlich war es ein Wunder, dass erst Tigarains Tod den Krieger endgültig zum Handeln getrieben hatte.
Neanden ballte seine Fäuste, riss sich gewaltsam aus seiner Erstarrung. Offensichtlich hatte Gairevel vor, die Gunst des Augenblicks zu nutzen, und Maifell, selbstlos und unerschrocken wie immer, musste ihm gefolgt sein. Sollte der Tag nicht gänzlich in einem Albtraum enden, kam es auf jede Sekunde an.
Mit angehaltenem Atem und jagendem Puls schob sich Neanden rückwärts, bis sich die Büsche und Bäume des Waldes um ihn schlossen und ihn vor den Blicken der anderen verbargen, dann warf er sich herum und begann zu rennen. Er stürmte durch das verlassene Dorf, das in tödlicher Stille dalag, bis er die gewaltige Eiche erreichte, in deren Wipfeln Andion gefangen gehalten wurde. So schnell wie nie zuvor kletterte er die schmale Leiter empor, doch schon auf halber Höhe spürte er, dass die magische Barriere, die sie um das Quartier des Jungen errichtet hatten, zerstört worden war, und als er
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