Wächter des Elfenhains (German Edition)
Maifell. Ionosen wusste das. Er hat es von Anfang an gewusst. Ogaire hat bereits einen Teil der Macht des Elfenvolkes gestohlen. Aber der andere ist noch da. Mit ihm bin ich Ogaire ebenbürtig.“
Seine Worte klangen zuversichtlich, doch allein die Vorstellung, seinem Vater in einem offenen Kampf entgegentreten zu müssen, ließ ihn innerlich zittern. Was ihre Kräfte anging, mochte er es tatsächlich mit ihm aufnehmen können, aber was war mit dem Willen? Konnte er wirklich hoffen, gegen den Willen eines Jahrtausende alten Elfen bestehen zu können?
Obwohl er versuchte, Selbstsicherheit und Optimismus auszustrahlen, spürte Maifell seine Zweifel. Tränen rannen plötzlich ihre Wangen hinab, hinterließen feuchte Spuren auf ihrer bleichen Haut. Behutsam hob Andion die Hand, strich ihr zärtlich eine Träne fort. Er fühlte das glitzernde Nass auf seiner Fingerkuppe, schloss die Augen und atmete tief durch. Die Antwort, nach der er gesucht hatte, lag mit einem Mal offen vor ihm. Denn mochte Ogaire seinen Willen auch im Lauf der Jahrtausende zu einer tödlichen Waffe geschmiedet haben, so besaß er doch etwas, das sein Vater niemals haben würde. Er öffnete seine Augen und lächelte Maifell an. Sie würde sein Wille sein! Für sie musste er den Hain retten! Er musste sie retten!
„Wirst du ... wirst du zurückkommen?“, flüsterte sie.
Andion spürte die Angst in ihrem Herzen und wünschte, er könnte sie so einfach fortwischen wie die Tränen, die über ihre Wangen rannen, doch er wollte sie nicht mit einer Lüge zurücklassen.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte er. „Ich werde es versuchen, aber ...“ Er verstummte, brachte die Worte nicht heraus.
Da lief ein Beben über Maifells schmale Gestalt. Bevor er auch nur wusste, wie ihm geschah, schlang sie ihm die Arme um den Hals, schmiegte sich eng an ihn und küsste ihn.
Als ihre Lippen sich berührten, war ihm, als würde ein Blitz geradewegs in seinen Körper fahren, ein gewaltiger, sengender Blitz, der durch seine Adern und jede einzelne seiner Zellen loderte und ihn doch nicht verbrannte, der ihn umhüllte und emporhob und voll jubilierender Freude seinen Namen sang. Angst, Zweifel und Sorge verblassten zu vollkommener Bedeutungslosigkeit, er spürte nur noch sie, ihre Wärme, ihre Nähe, ihre Güte, ihre Liebe. Er umarmte sie seinerseits, hielt sie fest, so fest, wie er es die ganzen Tage hatte tun wollen, und erwiderte ihren Kuss. Schauer um Schauer überlief ihn, während ihre Seelen miteinander tanzten, sich verbanden, einander heilten, sich zusammenfügten, so als seien sie niemals getrennt gewesen.
Als der Kuss schließlich endete, wäre Andion um ein Haar in die Knie gegangen.
„Was ... was hast du getan?“, keuchte er.
Nun war es Maifell, die lächelte. „Wir sind jetzt verbunden.“ Ihr Lächeln erstarb, und das wundervolle Blau ihrer Augen verblasste, wurde zu einem fahlen Wintergrau. Zitternd drängte sie sich an ihn. „Jetzt musst du zurückkehren. Wenn du es nicht tust, werde ich allein sein. Für den Rest meines Lebens.“
Andion spürte, wie er selbst erbebte. „Maifell ...“
Sie sah zu ihm auf und legte ihm sanft einen Finger auf die Lippen. „Du musst nichts sagen, Andion. Ich werde warten.“
Andion betrachtete sie noch einen Moment lang stumm, roch den frischen Duft ihres Haars, fühlte die Wärme ihrer Berührung auf seiner Haut, versuchte, jede Einzelheit von ihr auf ewig in seinem Gedächtnis zu bewahren. Dann ließ er sie los.
Niemals in seinem Leben war ihm etwas so schwer gefallen. Es war, als wäre ein Teil von ihm noch immer in ihr, als hätte sich in seiner Seele plötzlich eine Wunde geöffnet und in dumpfer Qual zu pochen begonnen, doch er ignorierte den Schmerz und das Verlangen, biss die Zähne zusammen und zwang seine widerstrebenden Muskeln, einen Schritt von ihr zurückzutreten.
Sie tauschten noch einen letzten Blick, wussten beide, dass dies ihr letzter gemeinsamer Moment sein konnte, dann wandte er sich ab und ging. Die magische Barriere vor seiner Tür stellte nun, mit der Macht der Elfenseelen in seinem Inneren, keinerlei Hindernis mehr für ihn dar, und er schritt durch sie hindurch wie durch einen Vorhang aus Rauch, der von einem heftigen Windstoß auseinandergetrieben wird.
Wenig später eilte Andion durch den Hain, eilte dem Ort seiner Albträume entgegen; dem Ort, an dem er sein Schicksal erfüllen musste.
20. Kapitel
Leise und klagend wehte der Totengesang über die Lichtung. Alle waren sie
Weitere Kostenlose Bücher