Wächter des Elfenhains (German Edition)
Bewegung zu geraten. Kenneth, seine beiden Kumpane und die johlende Meute schienen mit einem Mal von ihm abzurücken, wurden blass und durchscheinend wie Gespenster im ersten neuen Licht des Morgens, und das Brüllen und Toben, die Beleidigungen und anfeuernden Rufe, die eben noch das ganze Universum erfüllt hatten, klangen plötzlich gedämpft und leise, als hätte sich von einer Sekunde auf die andere eine unsichtbare Wand zwischen ihn und seine Peiniger geschoben, die alle Geräusche schluckte. Im gleichen Moment, fast als hätten sie nur auf diesen Augenblick gewartet, schälten sich Silhouetten vor ihm aus der brodelnden Luft, winzige, kaum sichtbare Gestalten, die aufgebracht über den Köpfen der Schüler kreisten.
Und hinter ihnen und durch die Körper der geifernden Menge hindurch sah er mit einem Mal Bäume, viele Bäume, nicht nur die eine Eiche. Sie erhoben sich dort, wo eigentlich der karge Beton des Pausenhofs hätte sein sollen, und ihre majestätischen Kronen wogten wie ein endloses grünes Meer im Sommerwind. Andion konnte das Rauschen der Blätter und das Knarren der Zweige hören, konnte den Duft der Rinde und des Mooses riechen, konnte Kräuter und Blumen sehen, die wie ein dichter Teppich den Asphalt bedeckten, und zwischen den Blüten und Grashalmen tanzten kleine, zartgliedrige Wesen. Tausend freundliche Augen schienen sich plötzlich auf ihn zu richten, Augen, die nicht menschlich waren, Augen, die tiefes Erkennen zeigten.
Der Chor des Windes wurde stärker.
„Andion! Andion! Komm zu uns!“ Die Stimmen übertönten längst das Geschrei der Schüler, deren bleiche Schemen vor dem Hintergrund der gewaltigen grünen Mauer kaum noch zu erkennen waren. Nur ein Schritt, nur ein einziger Schritt fehlte noch, und er würde gänzlich hinüberwechseln, würde die reale Welt hinter sich lassen – und frei sein.
Gewaltsam riss sich Andion von dem bizarren Anblick los. An Märchen von Elfen und Blütenfeen zu glauben, ein wenig Magie im Alltag zu suchen, das war eine Sache, aber das hier eine andere. Er wurde verrückt! Er wurde tatsächlich verrückt! So wie sein Vater.
„Hört auf!“, schrie er entsetzt. „Hört auf! Geht weg!“
Er presste die Hände vors Gesicht, um nichts mehr zu sehen, bemerkte kaum, wie er sich dabei Ashton und Kevin entzog.
Wimmernd sackte er nach vorn, krümmte sich zusammen. Eine Welle des Mitgefühls überströmte ihn, Mitgefühl jener fremden Wesen. Sie wollten ihn trösten, doch er wich vor ihnen zurück.
„Lasst mich in Ruhe!“, brüllte er. „Geht weg!“
Bedauern, aber auch sanftes Verständnis fluteten in seine Seele, mehr Sanftheit, als ihm je zuvor zuteilgeworden war. Und dann erfüllten sie seinen Wunsch. Die Gräser, Büsche und Bäume verschwanden, ebenso die kleinen tanzenden Wesen über den Wiesen und Bächen. Von einem Augenblick zum anderen sah Andion wieder die karge Ödnis des Schulhofs vor sich, sah in Dutzende hasserfüllte Gesichter, die verächtlich und angewidert auf ihn herunterstarrten.
Er schluchzte auf. Tränen rannen unaufhaltsam seine Wangen herab. Er konnte sie nicht zurückhalten, sie nicht verbergen. Er wollte nicht verrückt sein! Er wollte nichts sehen, was nicht real war! Und doch war ihm, als hätte er mit dem Verschwinden der Illusion einen Teil seiner Seele verloren.
Kenneth ragte plötzlich bedrohlich wie ein Gebirgsmassiv vor ihm auf.
„Verdammter Freak!“, knurrte er und schlug noch einmal mit aller Kraft zu.
Der Schlag riss Andion endgültig ins Dunkel. In der Sekunde, bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er das helle Läuten der Pausenglocke über den Hof schallen. Spöttisch begleitete es seinen Sturz in die Finsternis.
2. Kapitel
Der scharfe Geruch von Riechsalz brachte Andion unsanft wieder zu Bewusstsein. Er hustete, fuhr mit einem Keuchen auf, und noch ehe er seine tränenden Augen gänzlich freigeblinzelt hatte, erfasste er mit einem schnellen Blick die Situation. Überraschenderweise schien sich irgendjemand seines geschundenen Körpers erbarmt zu haben, denn er lag nicht mehr auf dem Schulhof neben der alten Eiche, wo er unter Kenneths mörderischen Fausthieben zusammengebrochen war, sondern auf der riesenhaften schweinsledernen Couch im Büro des Direktors, dessen finsteres Gesicht mit den buschigen Augenbrauen und dem düsteren schwarzen Rasputinbart sich unheildräuend über ihn beugte.
Andion wollte sich erheben, doch Mr. Perry packte ihn hart am Arm und hielt ihn fest.
„Moment, Freundchen,
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