Wächter des Elfenhains (German Edition)
worden war, und er betete zu allen Mächten des Universums, dass der düstere Schatten seines Vaters niemals über Oakwood fiel. Er wollte nicht fort von hier, nicht wieder auf der Flucht sein, nicht schon wieder ein Stück seiner Hoffnung verlieren.
Dabei lag es nicht nur an der herrlichen Umgebung, dass Andion in den letzten zwei Jahren fast so etwas wie ein Verbundenheitsgefühl zu diesem Ort entwickelt hatte, das dem, was andere Menschen bei dem Gedanken an ihr Zuhause empfanden, vermutlich so nahe kam, wie es überhaupt nur möglich war. Es lag vor allem an dem Park. Er war das grüne, lebendige Herz der Stadt, Namensgeber und Wahrzeichen Oakwoods seit jenem Tag vor 150 Jahren, als die Grundmauern der ersten Häuser hier in die Höhe gewachsen waren, eine riesige Fläche mit saftigen Wiesen und kleinen, verstreuten Eichenwäldchen, die zum Picknicken und Spazierengehen einluden. Oft saß er stundenlang im samtigen Zwielicht unter den ausladenden Wipfeln der Bäume, den Rücken gegen die raue Rinde eines Stammes gelehnt, und beobachtete durch die Zweige und Blätter hindurch das Spiel von Wolken und Wind am Firmament, oder er schlenderte gedankenversunken die stillen Wege entlang, lauschte dem Gesang der Vögel, der an guten Tagen sogar den Verkehrslärm der nahen Stadt übertönte, oder genoss das belebende Gefühl eines warmen Sommerregens, der sanft über sein Gesicht perlte. Zweifellos, er liebte den Park, und der Gedanke, wegen der bizarren Obsessionen seines mörderischen Erzeugers irgendwann Hals über Kopf aus Oakwood fliehen zu müssen, drohte ihm schier das Herz zu zerreißen.
Mit einem stillen Seufzen schaute er zu Ian, während sie, noch immer schweigend, die breite Straße entlangschritten. Trotz der unerfreulichen Vorkommnisse in der Schule wirkte sein Vormund wieder einmal so ruhig und gelassen, dass sich an seiner entspannten Miene vermutlich selbst dann nichts geändert hätte, wenn Godzilla und King Kong Tango tanzend vor ihm über den Gehsteig gehüpft wären oder sich ein Killer-Kommando vermummter Ninjas säbelschwingend von den Hausdächern auf sie gestürzt hätte.
Andion beneidete ihn um diese innere Ausgeglichenheit. Neben seiner gequälten, von Zweifeln zerrissenen Seele wirkte Ian Muldoon wie ein Baum, der im unerschütterlichen Vertrauen auf seine starken, sicheren Wurzeln auch dem schlimmsten Sturm zu trotzen vermochte, wie jemand, der die Dunkelheit kannte und wusste, dass stets das Licht des neuen Morgens folgte. Woher er diese Zuversicht nahm, war Andion angesichts des wahnsinnigen Monstrums, das seit 17 albtraumhaften Jahren an ihren Fersen klebte, nicht ganz klar, aber er war ihm dennoch zutiefst dankbar dafür. Ians ruhige, beständige Gegenwart war es, die die Furcht und das Grauen in Schach hielt, sie war der Kerzenschein im Fenster, der ihn nach Hause zurückführte, wenn er einsam und verloren durch die Finsternis irrte und die Dämonen der Nacht mit kalten Fingern nach seiner Kehle griffen. Oft genügte ein einziger Blick seiner klaren, blauen Augen oder eine kurze Berührung mit der Hand auf seiner Schulter, um die heulenden Geister zu vertreiben, die düsteren Wolken vom Himmel zu jagen und den schwankenden Boden unter seinen Füßen wieder fest und sicher zu machen.
Andion wusste nicht, wie Ian es schaffte, immer genau das Richtige zu tun, aber eins wusste er mit Gewissheit: Ohne Ian Muldoon wäre er schon vor Jahren unter der Last seines trostlosen Lebens zusammengebrochen. Vielleicht wäre er einfach irgendwann während einer Unterrichtsstunde aufgestanden und hätte zu schreien begonnen, immer lauter und lauter, seine Seele von den emotionalen Krallen seiner Mitschüler unwiderruflich in Fetzen gerissen, oder man hätte ihn eines Tages mit leerem Gesicht und stumpfem Blick neben irgendeiner Hauswand gefunden, mit offenem Mund in den Himmel glotzend und geistlos gutturale Laute stammelnd. Oder er hätte sich in einem spontanen Anfall von Selbsthass vor den nächsten Bus geworfen, sich lässig ein Küchenmesser in die Kehle gerammt oder mit einem Eimer Rattengift endgültig für klare Verhältnisse gesorgt. Der Weg in den geistigen Verfall besaß viele Abzweigungen und Trampelpfade, aber ob er nun die breite Straße benutzt oder sich für einen der kuriosen Seitenarme entschieden hätte, am Ende hätte es ihn erwischt.
Andererseits jedoch hätte der Irrsinn möglicherweise gar nicht genügend Zeit gehabt, in seinem maroden Gehirn zu wuchern, denn ohne Ians
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