Wächter des Elfenhains (German Edition)
steckte. Auch er besaß ein Handy, doch er betete, dass er es niemals würde benutzen müssen. Denn das würde bedeuten, dass die schrecklichste aller Möglichkeiten Wirklichkeit geworden war. In dem Fall könnte er Ian zu Hilfe rufen - vorausgesetzt natürlich, er lag dann nicht bereits mit aufgeschlitzter Kehle hinter irgendeiner Mülltonne oder wurde gerade von einem kichernden Irren in Stücke gehackt. Genau aus diesem Grund war Ian niemals weit von ihm entfernt.
Sein Vormund nickte mit dem Kopf in seine Richtung. „Kann ich Ryan nach Hause bringen?“, fragte er ruhig. „Ich denke, für heute hat er genug von der Zuneigung seiner Mitschüler genossen.“
Mr. Perry knurrte unwirsch. „Das denke ich auch. Also nehmen Sie ihn schon mit! Vielleicht bekommen wenigstens Sie etwas Vernunft in seinen Schädel“ Er fixierte Andion mit finsterem Blick. „Du hast eine Woche lang Zeit, über dein Verhalten nachzudenken. So lange will ich dich nicht in der Schule sehen, ist das klar?“
„Ja, Sir.“
„Das will ich hoffen. Also dann“ – er nickte Ian knapp zu – „guten Tag, Mr. Muldoon.“ Er wandte sich mit einer schroffen Bewegung von ihnen ab, langte offensichtlich wahllos nach irgendeinem Aktenordner und begann, mit gewichtiger Miene darin herumzublättern.
Andion betrachtete den Direktor noch einen Moment lang schweigend, dann seufzte er leise. Auch Mr. Perry fürchtete ihn, doch im Gegensatz zu den anderen Lehrern und Schülern kämpfte er hart darum, sich diese Gefühle nicht anmerken und sein Handeln nicht von ihnen bestimmen zu lassen – ein ehrenwertes, aber leider gänzlich nutzloses Unterfangen. Andion wusste, dass der Schulleiter erst dann wieder frei würde durchatmen können, wenn der eigenartige Junge mit den unheimlichen grünen Augen und sein nicht minder beunruhigender Wachhund aus seinem Büro verschwunden waren und mindestens fünf Häuserblocks zwischen ihnen lagen – was unter den gegebenen Umständen vermutlich die verständnisvollste und einfühlsamste Reaktion war, auf die er hoffen durfte.
Ian kam zu ihm herüber und legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter.
„Komm.“
Schweigend verließen sie das Schulgebäude und machten sich auf den Weg nach Hause. Sie gingen stets zu Fuß, denn Ian besaß kein Auto; aber in Oakwood, der Stadt, in der sie zurzeit lebten, brauchten sie auch keins. Oakwood war nicht besonders groß, zumindest im Vergleich zu all den anderen Städten, in denen sie im Lauf der Jahre auf ihrer verzweifelten Flucht Station gemacht hatten.
Es besaß gerade genug Einwohner für zwei in ewiger Konkurrenz stehende Krankenhäuser, drei Schulen und ein halbes Dutzend der unvermeidlichen, allgegenwärtigen Shoppingcenter. Dennoch hatte sie Ian vor zwei Jahren hierher gebracht und zu Andions Überraschung sogar ein kleines Haus in der Nähe des Stadtparks gekauft.
So fest hatte er sie noch nie an einen Ort gebunden, und mittlerweile hatte Andion es aufgegeben, ihn danach zu fragen, woher das Geld dafür stammte. Ian murmelte dann stets etwas von irgendeiner alten Erbschaft, aber wirklich überzeugend klang diese Erklärung nicht. Allerdings war es auch wiederum nicht so wichtig, dass Andion sich deswegen graue Haare hätte wachsen lassen, denn abgesehen von den täglichen Sympathiebekundungen seiner Mitschüler und Lehrer, die vermutlich auch bei irgendwelchen Schrumpfkopf-Pygmäen am Amazonas nicht großartig anders ausgefallen wären, war ihm Oakwood tatsächlich von allen Verstecken, in denen sie sich bislang verborgen gehalten hatten, das liebste.
Was vielleicht auch gar nicht so überraschend war, denn die Stadt trug ihren Namen durchaus zu Recht. Auf allen Seiten umgeben von steilen, bewaldeten Hügeln, wirkte Oakwood fast wie ein Teil der gewaltigen Berge, die sich majestätisch und kalt am östlichen Horizont erhoben, und immer wenn er glaubte, den Anblick der kahlen, grauen Häuserfassaden, das Knattern und Dröhnen der Motorsägen, Presslufthämmer und Rasenmäher und den Abgasgestank der Autos, Busse und Motorräder nicht länger ertragen zu können, hob er den Blick und suchte über den Dächern der Gebäude nach den grünen Wipfeln der Tannen und Eichen, suchte die stille Gegenwart der Bäume, die wie ein kühlender Lufthauch über seine heiße, entzündete Seele strich und ihm leise zuraunte, den Mut nicht zu verlieren. Es war eine Gnade, die ihm in den Grauen erregenden Stahl- und Betonwüsten, in denen sie zuletzt gelebt hatten, nicht gewährt
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