Wächter des Elfenhains (German Edition)
wecken, da sie von allen im Dorf über die größten heilerischen Kräfte verfügte. Als Neanden sah, wie sich in der schweigenden Menge eine Gasse für sie öffnete und sie mit schnellen Schritten auf die reglose, am Boden liegende Gestalt des Fremden zueilte, versteifte sich alles in ihm, und er hätte sie am liebsten gepackt und mit sich fortgezerrt, irgendwohin, wo sie in Sicherheit war, wo Ogaires kalter, tödlicher Atem sie niemals erreichen würde. Was, wenn Andion beim Erwachen feststellte, dass er nicht mit so offenen Armen empfangen wurde, wie er das vermutlich beabsichtigt hatte, und Maifell als Schutzschild oder Geisel benutzte, um sich seinen Weg zurück in die Menschenwelt freipressen zu können? Ogaire hatte eine junge, unschuldige Frau bestialisch abgeschlachtet, als er seinen Vorteil darin gesehen hatte. Was hinderte seinen Sohn daran, dasselbe zu tun?
Neanden spürte, wie sich seine Rückenmuskulatur anspannte, als sich Maifell direkt neben dem Bewusstlosen auf die Knie niederließ, mit der Hand behutsam über seine Stirn strich und ihre Augen schloss. Bevor er jedoch im lähmenden Würgegriff seiner Furcht vollends die Beherrschung verlor, zuckte sie zusammen, riss ihre Augen wieder auf und starrte ihn an. Ihr Zorn traf ihn wie ein Schlag.
„Du hast ihn beinahe umgebracht!“
Neanden hatte das Gefühl, als gefröre er innerlich zu Eis. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wich steif einen Schritt vor ihr zurück. „Er ist Ogaires Sohn. Hätte ich einen Blumenkranz für ihn flechten sollen?“
Maifell schnaubte verächtlich. „Ein Lächeln oder ein freundliches Wort hätten schon genügt.“ Sie warf einen herausfordernden Blick in die Runde. „Ogaires Sohn oder nicht, dieser arme Junge ist für niemanden eine Gefahr, und jeder, der auch nur einen winzigen Moment innehalten würde, bevor er seinen Hass auf ihm entlädt, würde das auch spüren. Seine Macht ist eben erst erwacht, und wenn er sich gegen deinen Zauber gewehrt hat, Neanden, dann war das gewiss nicht mehr als ein instinktiver Reflex. Er hat lediglich versucht, sein Leben zu schützen. Hätte er es nicht getan, wäre er jetzt tot!“
Neanden holte tief Luft. Obwohl dies weder der richtige Ort noch die richtige Zeit war, um sich von Maifell in einen neuerlichen Disput über Pflichtbewusstsein und moralische Integrität verwickeln zu lassen, spürte er, wie auch in ihm der Zorn zu pochen begann. „Er ist ein Eindringling, Maifell. Hätte ich darauf warten sollen, dass er uns allen die Kehle durchschneidet?“
Maifell schüttelte den Kopf, dass ihre langen blonden Haare flogen. „Er ist kein Eindringling! Der Hain hat ihn gerufen. Und die Sylphen und Blütenfeen haben das Erbe seines Volkes in ihm bestätigt.“
„Ogaires Erbe!“
Wieder einmal trat dieser mitleidige Ausdruck in ihre Augen, der ihn so sehr schmerzte. „Nicht alle haben so viel Glück mit ihren Eltern wie du, Neanden.“
Bevor er etwas darauf erwidern konnte, durchschnitt Rilcarons scharfe Stimme das betretene Schweigen ringsum.
„Es reicht, Maifell! Wir haben deine Meinung zur Kenntnis genommen.“
„Aber ...“
„Tu deine Pflicht! Dies, nicht mehr und nicht weniger, erwarten wir von dir. Sollte dir dieser Fremde allerdings wichtiger sein als das Wohl deiner Freunde und deiner Familie, dann werde ich meine Bitte an jemand anderen richten.“
Maifell presste die Lippen aufeinander. „Ich werde ihn heilen.“
Rilcaron nahm ihre Antwort mit unbewegtem Gesicht zur Kenntnis. „Gut. Und beeil dich. Ich will kein weiteres Wort mehr von dir hören.“
Kurz dachte Neanden, Maifell würde abermals aufbegehren, doch sie beugte sich lediglich schweigend über den Jungen und legte ihm noch einmal die Hände auf die Stirn. Wenige Augenblicke später war es vollbracht.
„Er wird gleich erwachen“, erklärte Maifell dumpf. Mit steinerner Miene nahm sie ihre Hände von dem reglosen Körper und richtete sich auf.
Rilcaron würdigte sie keines Blickes. Mit einer knappen Geste winkte er Gairevel. Der nahm Maifell beim Arm und führte sie sanft, aber bestimmt von der Versammlungshalle fort.
Maifell ließ es widerspruchslos geschehen. Sie warf noch einen letzten Blick auf den Jungen, sah dann zu Neanden.
Neanden schnürte es vor Kummer die Kehle zusammen. Selbst ohne sie anzusehen spürte er, dass ihre Herzen in diesem Augenblick weiter voneinander entfernt waren als je zuvor.
11. Kapitel
„Steh auf!“ Die barsche Stimme riss Andion endgültig aus der
Weitere Kostenlose Bücher