Wächter des Elfenhains (German Edition)
Seele schnitten – die sehnsuchtsvolle Erwartung, die Freude und die Hoffnung, die in jeder einzelnen Silbe mitschwangen, und das bedingungslose Vertrauen, das die Wesen des Kleinen Volkes gegenüber Ionosen und seinem widerwärtigen Mündel empfanden. Es schien fast, als glaubten sie, der Mistkerl habe seinen Namen tatsächlich verdient! Dabei war er nicht einmal ein richtiger Elf! Im Grunde konnte man nicht einmal Ogaires Erbe als das eines Elfen bezeichnen; zu weit hatte sich der ehemalige Wächter des Hains von allem entfernt, was seinem Volk heilig war. Und dennoch hieß der Hain diesen Abkömmling unwürdiger Eltern, diesen Sohn eines Mörders und einer Menschenfrau willkommen, hatte der Schlange bereitwillig einen Weg in sein Inneres geöffnet.
Neanden hätte vor Bitterkeit, Wut und Enttäuschung am liebsten geschrien, hätte mit seinen Fäusten gegen die Stämme der Bäume getrommelt, bis er von ihnen eine Antwort erhielt, die dem Sturz in Dunkelheit und Verzweiflung Einhalt gebot und die Qualen seiner fiebrigen Seele zu lindern vermochte. Doch er schwieg, setzte lediglich mechanisch einen Schritt vor den anderen, während er düster ins Leere starrte und sich seine Schultern krümmten, als habe sich ihm ein giftiger Dorn in den Rücken gebohrt, der mit jeder seiner Bewegungen mehr von seinem tödlichen Gift in seinen Körper pumpte.
Er war so sehr in sein dumpfes Brüten vertieft, dass ihn die Veränderung vollkommen unvorbereitet traf. Von einem Moment auf den anderen erstarrte die gesamte Szenerie zur Reglosigkeit; die huschenden Bewegungen zwischen den Bäumen erstarben, und wie auf ein geheimes Zeichen hoben die Wesen des Kleinen Volkes ihre Köpfe, als habe sie ein unerwartetes Geräusch jäh aus ihrer selbstversunkenen Litanei geschreckt. In der gleichen Sekunde spürte Neanden es ebenfalls. Jemand hatte den Hain betreten. Und die helle Aufregung, in die die Sylphen und Blütenfeen sogleich verfielen, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wer der Eindringling war.
Greller Zorn kochte in ihm hoch. Wie konnte er es wagen? Wie konnte er es wagen, den Hain zu betreten, ohne zuvor gerufen worden zu sein? Neanden fletschte die Zähne. Endlich war geschehen, worauf er seit seiner ersten Begegnung mit der ruchlosen Kreatur gehofft hatte. Mit der unsäglichen Arroganz und Selbstgefälligkeit, mit der er sich über die eindeutige Weisung Rilcarons hinweggesetzt hatte, hatte Ogaires Sohn seine wahre Gesinnung offenbart und unmissverständlich klar gemacht, wie sehr er die Gefühle und Bedürfnisse der Elfen tatsächlich zu respektieren gedachte. Damit hatte er jeglichen Kredit, der ihm durch Ionosens orakelhafte Botschaft und den guten Willen der Ältesten gewährt worden war, endgültig verspielt.
Beinahe versonnen wandte Neanden den Kopf in die Richtung, aus der er die Anwesenheit des Jungen spürte, und ein kaltes Lächeln glitt über seine Züge. Es wurde Zeit, die Verhältnisse endlich wieder gerade zu rücken und dem Mistkerl die Behandlung angedeihen zu lassen, die er von Anfang an verdient hatte. Sein Volk hatte sich von Ogaire und seinem Natterngezücht bereits viel zu lange auf der Nase herumtanzen lassen.
Er begann zu laufen, erst langsam, dann immer schneller, jagte mit der tödlichen Geschwindigkeit eines von der Sehne geschnellten Pfeils zwischen den mächtigen Stämmen der Bäume dahin. Der Zugang zum Hain lag nicht weit entfernt – natürlich nicht, immerhin hatte er sich in den letzten Tagen stets in dessen Nähe aufgehalten, fast als habe er geahnt, dass sich der verschlagene Teufel nicht auf Dauer den Befehlen des Rates beugen würde.
Ein paar Augenblicke später sah Neanden ihn auch schon. Der Junge stand mit dem Rücken zu ihm, bemerkte nichts von dem grimmigen Racheengel, der mit wehenden Haaren und wutverzerrtem Gesicht auf die Lichtung stürmte. Doch irgendetwas stimmte nicht. Neanden runzelte die Stirn, zögerte. Seine Augen verengten sich, fixierten misstrauisch seinen Feind. Es machte nicht den Eindruck, als sei ihr ungebetener Besucher besonders glücklich über seine Rückkehr. Er hatte die Arme erhoben, drosch wild mit seinen Fäusten in die Luft, als versuche er mit aller Kraft, das Tor zurück in die Menschenwelt erneut zu durchschreiten – was ihm eigentlich nicht weiter hätte schwerfallen dürfen, denn die Grenze befand sich unmittelbar vor ihm. Und doch schien er sie nicht überqueren zu können.
Erst jetzt spürte Neanden die Angst und die Verzweiflung, die in
Weitere Kostenlose Bücher