Wächter des Elfenhains (German Edition)
Dir ist überhaupt nicht klar, was mein Vater für dich getan hat!“ Er starrte wild zu ihm hoch, fing jetzt selbst an zu zittern. „Er hat alles für dich aufgegeben, sein Leben im Hain, seine Familie, seine Zukunft. Dabei hat er es gewusst! Er muss von Anfang an gewusst haben, dass Ogaire ihn eines Tages töten würde, wenn er versuchen würde, dich zu beschützen. Trotzdem hat er sich für dich geopfert! Ist es zu viel verlangt, wenn ich den Grund wissen will? Was hat er dir über die Zukunft gesagt? Was, bei allen Bäumen, hat er in dir gesehen? Was wirst du tun, dass du ein derart großes Opfer verdienst? Sag es mir!“
Andions Schultern krümmten sich noch mehr; seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Ich ... ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich könnte sein, was mein Name behauptet, aber ich weiß nicht wie. Ich weiß es einfach nicht!“
Neanden wandte den Blick von ihm ab. Er fühlte sich plötzlich müde, so unendlich müde. Steif wie ein Schlafwandler erhob er sich, nahm den leblosen Körper seines Vaters behutsam auf die Arme.
„Dann ist mein Vater umsonst gestorben“, sagte er leise und wandte sich ab.
Ohne sich auch nur ein einziges Mal nach Andion umzusehen, kehrte er in den Hain zurück.
15. Kapitel
Unfähig, sich zu rühren, sah Andion Neanden nach, bis er mit dem Leichnam seines Vaters im Nebel zwischen den Welten verschwunden war. Kälte sickerte in seine Glieder, lähmte seinen Körper und seinen Geist. Er wollte den Arm heben, wollte Neanden anflehen, ihn nicht so zurückzulassen, aber ihm fehlte die Kraft dazu. Nur ein Gedanke gellte in ihm, loderte wie ein düsteres Fanal seiner Schuld in der trostlosen Finsternis seiner Seele. Ionosen war tot. Er hatte sich geopfert - für ihn.
Doch warum nur, warum? Warum hatte er nicht den einen weiteren Schritt getan, warum war er nicht zusammen mit ihm in den Hain geflohen, dorthin, wo Ogaire sie niemals hätte erreichen können? Wieso hatte er versucht, ihn zu bekämpfen, obwohl er doch gewusst hatte, dass er unterliegen würde?
So viele Fragen, und keine einzige Antwort. Und ihm blieb nicht einmal die Zeit, darüber nachzudenken. Ogaire konnte noch immer in der Nähe sein. Im Grunde war es ein Wunder, dass er sie nicht sofort angegriffen hatte, als sie kopflos und in Panik aus dem Nebel gestolpert waren.
Doch Andion spürte nichts von der kalten, tödlichen Präsenz, die ihn in dem Krankenzimmer mit solchem Grauen erfüllt hatte, ebenso wenig wie er die Gegenwart eines anderen Menschen oder Lebewesens um sich herum wahrzunehmen vermochte. Es war, als habe sich Ogaires Aura der Bösartigkeit wie ein giftiger Brodem in der Luft verteilt und wirkungsvoll dafür gesorgt, dass niemand, der auch nur halbwegs bei klarem Verstand war, während der vergangenen Minuten einen Fuß in den Park gesetzt hatte.
Und das war gut so. Niemals hätte Andion in seiner Trauer und seinem Schmerz die Kraft gefunden, einen Zauber zu wirken, der ihn vor den neugierigen Blicken zufällig vorbeikommender Passanten zu verbergen in der Lage gewesen wäre. Wankend ging er zu Esendion und Alisera hinüber, die noch immer dort lagen, wo Ogaire sie in den Schmutz geworfen hatte. Vielleicht war es dumm, vielleicht lieferte er sich damit Ogaire ans Messer, doch er konnte nicht anders. Er konnte sie nicht einfach hier liegen lassen, in dem aufgewühlten, blutbesudelten Laub zwischen den dunklen Eichen und Tannen, wo sie schließlich irgendwelche gleichgültigen Parkwächter finden und wie Abfall in den nächsten Müllcontainer stopfen würden.
Behutsam nahm er Esendion vom Boden auf und trug ihn zum Ufer des Weihers, anschließend kehrte er zurück und holte Alisera. Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er die beiden zarten Schwanengestalten ins hohe Gras bettete. Die Erinnerung daran, wie sie im Krankenzimmer ihre wahre Form angenommen hatten, grub sich wie mit tausend glühenden Messerklingen in sein Herz und ließ ihn voller Qual aufschluchzen. Entschlossen und mutig hatten sie sich bei den Händen gefasst, um Ogaire entgegenzutreten – doch auch sie mussten gewusst haben, dass sie unterliegen würden.
Trotzdem hatten sie es getan – für ihn.
Andion weinte heftiger. „Ich habe das nicht verdient“, flüsterte er, streichelte ein letztes Mal die schlanken Hälse.
Dann nahm er beide Schwäne auf die Arme und wandte sich dem See zu. Langsam schritt er ins Wasser, tiefer und tiefer, bis es ihm bis an die Brust reichte; dort blieb er stehen, schloss seine
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