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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gavénis
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wankte, starrte mit brennenden Augen auf die Stelle, an der nur einen Lidschlag zuvor die machtvolle Aura seines Vaters in der milden Morgenluft zu spüren gewesen war. Erst als Andion an ihm vorbeistürmte und die Grenze überschritt, kam wieder Leben in ihn. Mit zugeschnürter Kehle und zittrigen Knien eilte er dem Jungen hinterher, warf sich ebenso wie er in den Abgrund, der die Welt der Elfen und der Menschen voneinander trennte. Es war das erste Mal, dass er den Hain verließ und den Weg beschritt, den auch sein Vater vor 90 Jahren gegangen war, und sein Herz krampfte sich vor Entsetzen und banger Furcht in seiner Brust zusammen, als er daran dachte, was er auf der anderen Seite vorfinden würde.
    Dichter Nebel hüllte ihn ein, raubte ihm die Sicht. Neanden verlor augenblicklich die Orientierung. Blind stolperte er vorwärts, während der Nebel wie mit klammen Fingern an seiner Kleidung zerrte, ihn festhielt und zurückstieß, fast als wäre er ein lebendiges Wesen, das schon seit Anbeginn der Zeit im düsteren Schlund des Zwielichts hauste, das mit kalten Augen in seine Seele blickte und ihn für unwürdig befand, auf seiner verzweifelten Reise weiter voranzuschreiten.
    „Vater!“, schrie er, erstickte fast an dem Schmerz, der ihm die Kehle zusammenpresste. „Vater, wo bist du?“
    Plötzlich spürte er eine Hand auf seinem Arm. Sie leitete ihn, führte ihn zielsicher durch die trügerischen Schwaden. Gleich darauf wichen sie zurück und enthüllten eine fremde Landschaft.
    Neanden hatte keinen Blick dafür übrig, auch nicht für Andion, der neben ihm stand und nun seinen Arm losließ. Er sah nur eines: eine reglose Gestalt, die keine zwei Meter von ihnen entfernt mit dem Gesicht nach unten zwischen den Bäumen am Boden lag.
    Ehe er noch wusste, was er tat, war er neben dem verkrümmten, blutbesudelten Körper in die Knie gesackt, strich mit seinen zitternden Händen hilflos über den zerrissenen, schmutzigen Stoff seiner Kleidung und das Blut, das in grausigem Rot aus dem zertrümmerten Schädel quoll und lautlos in die schwarze, verbrannte Erde sickerte. „Vater! Vater, nein! Bitte!“
    Doch er bekam keine Antwort. Neanden schluchzte auf. Behutsam fasste er zu und drehte seinen Vater auf den Rücken, umschlang ihn mit beiden Armen und drückte ihn an sich. Verzweifelt versuchte er, einen Funken heilender Magie in sich zu entfachen, aber das Chaos seiner Gefühle war einfach zu groß, selbst wenn er im Heilen von Wunden und Krankheiten nicht der erbärmliche Stümper gewesen wäre, der er nun einmal war. Ohnehin war es längst zu spät, um mit Zauberei noch etwas bewirken zu können. Sein Vater war tot.
    Er presste den leblosen Körper noch fester an sich, vergrub sein Gesicht schluchzend in der blutgetränkten Kleidung. So viele Jahre hatte er sich eingeredet, seinen Vater zu hassen, hatte sich dafür geschämt, was er seinem Volk und seiner Familie angetan hatte, bis er seine eigenen Lügen schließlich selbst für die Wahrheit gehalten hatte. Doch die Wahrheit war hier, in diesem blutigen, geschundenen Leib, den er in seinen Armen hielt, und in den Tränen, die heiß über seine Wangen strömten und keinen Raum mehr ließen für Bitterkeit und Arroganz und selbstgerechten Zorn.
    Neanden wollte schreien, wollte seinen Kummer und seinen Schmerz in den gleichgültigen Himmel brüllen, doch nur ein dumpfes, gequältes Krächzen kam über seine Lippen. Neunzig Jahre! Neunzig Jahre hatte er ihn nicht gesehen, und jetzt verlor er ihn für immer. All sein Mut und seine Opferbereitschaft waren am Ende vergeblich gewesen. Ogaire hatte triumphiert – so wie er auch damals triumphiert hatte.
    Ruckartig sah Neanden auf. Andion stand nur wenige Schritte von ihm entfernt. Auch in seinen Augen schimmerten Tränen, und seine Schultern waren gekrümmt, als stecke ein Messer in seinem Leib, das mit jeder Sekunde tiefer in seine Gedärme hineingetrieben wurde. Aber das war nicht genug. Das war bei Weitem nicht genug!
    „Warum?“, flüsterte Neanden. „Warum hat er das getan?“
    Andion erbebte. Er senkte den Blick, konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Ich ... ich wollte niemals, dass so etwas geschieht. Lieber wäre ich selbst gestorben.“
    Er meinte es sogar ehrlich, doch das machte alles nur noch schlimmer.
    „Ich will eine Antwort!“, zischte Neanden.
    Andion zuckte zusammen. Seine Gefühle ertranken in einem Meer aus Trauer – und Verwirrung.
    Neanden keuchte ungläubig auf. „Du begreifst es nicht einmal!

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