Waechter des Labyrinths
vertrauen. Er hat schon viele Arbeiten für meine Familie ausgeführt. Er hat mir versichert, dass er mir ein überzeugendes Vlies machen kann, wenn ich ihm genau sage, wie es aussehen soll. Besteht es zum Beispiel nur aus Gold, oder enthält es auch andere Materialien? Und wenn ja, welche und in welchem Verhältnis? Wie schwer muss es sein? Welche Form hat es? Welche Struktur? Welche Techniken waren damals bekannt? Hat man zum Beispiel Goldstücke benutzt oder Goldfäden verwebt? Wozu ist es benutzt worden? Konnte man es tragen? Kurz gesagt, wie hat es ausgesehen?»
«Oh», sagte Edouard. «Das weiß keiner genau. Es gibt Darstellungen auf antiken Gefäßen oder Kunstwerken, aber die basieren alle auf der Phantasie ihrer Schöpfer. Und darauf sieht es ungefähr so aus, wie man es sich vorstellen würde, also wie ein Schaffell, das mit Gold überzogen ist. Vielleicht hat es tatsächlich so ausgesehen. Wussten Sie, dass man in Georgien früher Vliese auf Holzrahmen gespannt und dann in einen Fluss gestellt hat, damit sich der vorbeiströmende Goldstaub in der Wolle festsetzt? Dann wurden sie zum Trocknen aufgehängt. Sie sahen genau so aus, wie man sich das Vlies vorgestellt hat.»
«Glauben Sie, dass Petitier so etwas gefunden hat? Ein mit Goldstaub überzogenes Schaffell?»
«Nein», antwortete Edouard. «Es ist gut möglich, dass das der Ursprung der Legende ist, aber gefunden haben kann er so etwas nicht. Ein Schaffell ist organisch und wäre schon vor Tausenden von Jahren zerfallen. Es sei denn, es hätte in einem extrem milden Klima gelegen. Wesentlich milder, als es in Griechenland ist. Vielleicht hätte es in Ägypten oder einem anderen Wüstenland …»
«Sie müssen mich nicht belehren», wies ihn Sandro zurecht.
«Ich sage nur, dass ein mit Gold besetztes, echtes Schaffell mittlerweile ein Haufen Staub sein würde. Kostbarer Staub, sicher, aber eben Staub.»
«Und wenn es doch überdauert hätte, wie würde es dann aussehen?»
Edouard zögerte. Es war schon schlimm genug, die Echtheit eines Vlieses bezeugen zu müssen, es war aber eine völlig andere Sache, Ratschläge zu geben, wie man eines fälschen konnte. «Das spielt keine Rolle», improvisierte er. «Sie werden niemals damit durchkommen. Heutzutage kann man alle möglichen wissenschaftlichen Tests machen. Man kann zum Beispiel die chemische Zusammensetzung eines Metalls analysieren und genau feststellen, wo und wann es gewonnen wurde.» Als er das sagte, schlug ihm das Herz bis zum Hals, denn es stimmte zwar, dass man Blei, Silber und Kupfer auf diese Weise analysieren konnte, nicht aber Gold. Jedenfalls noch nicht. Aber das Risiko musste er eingehen.
«Und wenn wir uns weigern, es testen zu lassen?»
«Und warum sollten Sie das tun? Außer Sie wüssten, dass es eine Fälschung ist.»
Die Stille am anderen Ende deutete darauf hin, dass sein Argument gesessen hatte. Aber Edouards Erleichterung währte nicht lange. «Ich hab’s», sagte Sandro. «Wir nehmen unseren turkmenischen Schatz. Das ist doch antikes Gold, oder?»
«Das dürfen Sie nicht!», protestierte Edouard erbost. «Dieser Schatz ist unbezahlbar.»
«Nicht so unbezahlbar wie das Vlies», bemerkte Sandro trocken. «Und außerdem können wir aus dem Gold, das ich gerade bestellt habe, Repliken der turkmenischen Stücke anfertigen lassen. Dann wird niemand erfahren, was wir getan haben.»
«Ich mache da nicht mit. Ich werde Ihnen auf keinen Fall helfen.»
«Doch, das werden Sie», entgegnete Sandro. «Oder haben Sie vergessen, dass Ihre Frau und Ihre Kinder meine Gäste sind?»
Augenblicklich war Edouards Widerstand gebrochen. Ihn verließ der Mut. «Ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken», sagte er matt. «Außerdem will ich mit meiner Frau sprechen.»
«Wollen Sie etwa mit mir handeln?»
«Ich bin Vater», sagte Edouard deprimiert. «Bevor ich nicht weiß, dass es meiner Frau und meinen Kindern gutgeht, kann ich an nichts anderes denken.»
«Ich habe Ihnen bereits mein Wort gegeben, dass es ihnen gutgeht.»
«Sie haben sie entführt!», schrie Edouard. «Wie kann ich Ihnen da noch irgendetwas glauben?» Er wusste, dass er zu weit gegangen war, aber es stimmte, die Situation trieb ihn in den Wahnsinn. «Bitte», flehte er. «Ich kann nicht mehr klar denken. Wie soll ich Ihnen helfen, wenn ich nicht mehr klar denken kann?»
Die Stille am anderen Ende dehnte sich bis ins Unerträgliche. «Na gut», sagte Sandro schließlich. «Wenn ich mich wieder melde,
Weitere Kostenlose Bücher