Waechter des Labyrinths
und wandte sich dann wieder an Franklin. «Dieses Haus», sagte er. «Haben nur Sie und Petitier dort gewohnt?»
«Nein, nein», meinte Franklin lächelnd. «Es war eine typische Studentenbude: groß, alt und baufällig.» Er blieb bei seiner überartikulierten Ausdrucksweise und wandte sich beim Sprechen immer an Knox, damit dieser seine Lippen sehen konnte. «Vier Schlafzimmer. In jedem wohnten zwei Leute, manchmal auch drei, je nachdem, wer gerade mit wem zusammen war. Jeder war willkommen, ob Grieche oder Ausländer, solange man die Miete bezahlen konnte und Lust auf intelligente nächtliche Diskussionen hatte. Es waren schöne Zeiten. Ich habe dort meine Doktorarbeit geschrieben. Über die dorische Wanderung.»
«Die dorische Wanderung?», fragte Knox höflich, als sie die eigentliche Stätte betraten. Sie gingen über einen gepflasterten Hof zu einem alten Pfad aus verwitterten Platten, der zum heiligen Berg führte. In der morgendlichen Ruhe konnte man sich nur schwer die überschwängliche und begeisterte Stimmung vorstellen, die hier in der Antike geherrscht haben musste, wenn alle Athener zu den Festlichkeiten gekommen waren. Knox war kein religiöser Mensch, aber er hatte eine starke Vorliebe für alles, was die Wunder und Merkwürdigkeiten der Welt feierte.
«Ich weiß», meinte Franklin lachend. «Aber damals war das Thema in Mode. Außerdem …» Er machte eine Handbewegung, um auf seine Hautfarbe hinzuweisen. «Als junger Schwarzer wollte ich unbedingt in die akademische Welt aufgenommen werden. Und zwar in die griechische. Ich musste mir Respekt verschaffen. Und wie konnte man das besser erreichen, als die europäischen Ursprünge der europäischen Kultur nachzuweisen?» Er führte Knox an zwei der legendären Symbole von Eleusis vorbei, dem Brunnen, neben dem Demeter den Verlust ihrer Tochter Persephone betrauert hatte, und dem Plutoneion, einer Grotte, die in die Unterwelt geführt haben sollte. «Ich nehme an, dass Sie die These von der dorischen Wanderung in groben Zügen kennen?», erkundigte er sich.
«Indogermanische Stämme fallen vom nordwestlichen Griechenland oder auch vom Balkan nach Süden ein», sagte Knox. «Sie unterwerfen die Mykener und führen die klassische griechische Kultur ein.»
Franklin nickte. «Ein bestechendes Geschichtsbild, allerdings mit einem kleinen Makel.»
«Keine Beweise», meinte Knox.
«Keine Beweise», wiederholte Franklin zustimmend. «Natürlich war mir das schon damals bewusst. Aber ich dachte, das würde keine Rolle spielen. Die großen Köpfe, die ich bewunderte, waren allesamt überzeugt von der These, sie musste also richtig sein. Denn warum sollten sie lügen? Oder – etwas milder ausgedrückt – sich selbst etwas vormachen?»
«Und dann tauchte Petitier auf», vermutete Knox.
«Richtig», meinte Franklin lächelnd. «Dann tauchte Petitier auf.»
IV
Edouard war im Morgengrauen aufgewacht, aber nicht aufgestanden. Wie ohnmächtig war er im Bett liegen geblieben, während es im Zimmer langsam hell wurde. Als Vater hatte er schon eine Menge Ängste ausgestanden, doch nie war es so schlimm gewesen wie jetzt. Seine Frau und seine Kinder waren Geiseln, und er hatte keine Möglichkeit, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Wasserleitungen blubberten, Türen schlugen. Obwohl er sich ständig ermahnte, endlich aufzustehen, lag er immer noch da. Schließlich hörte er Schritte vor seiner Tür, dann klopfte es. Boris kam herein und schaute verächtlich auf ihn herab. «Sandro Nergadse», sagte er und hielt ihm sein Handy hin.
«Für mich?»
«Ja», sagte Boris. «Für Sie.»
«Mr. Nergadse», sagte Edouard und richtete sich besorgt auf. «Was ist? Ist meinen Kindern etwas passiert?»
«Nein.»
«Wirklich nicht?»
«Natürlich nicht. Ihrer Familie geht es gut. Sie sind gerade mit meinem Vater zum Reiten gegangen.»
«Worum geht es denn?»
Ein kurzes Zögern. «Um dieses Vlies», sagte er. «Ich möchte, dass Sie mir sagen, wie es aussieht.»
«Ich kann Ihnen nicht ganz folgen», meinte Edouard stirnrunzelnd. «Wir werden wissen, wie es aussieht, sobald wir es heute Vormittag gesehen haben.»
«Das reicht mir nicht. Ich habe meinem Vater dieses Wochenende ein Goldenes Vlies versprochen, und ich werde ihm eins geben, egal was passiert.»
«Ich verstehe nicht.»
«Dann hören Sie gut zu. Ich habe gerade mehrere Kilo Gold bestellt. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass ein … ein Kunsthandwerker kommt. Keine Sorge, wir können ihm
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