Waechter des Labyrinths
Insel Atlantis war also riesig, sondern das Gebiet, das sie kontrollierte. Das minoische Reich hatte Außenposten im gesamten östlichen Mittelmeerraum, von Griechenland bis nach Ägypten, genauso wie Atlantis. Rechnet man diese ganze Fläche zusammen, auf Land und auf See, dann erhält man tatsächlich ein Gebiet von der Größe, wie man sie damals für Afrika annahm.»
«Wahrscheinlich.»
«Außerdem beschreibt Platon Atlantis ziemlich detailliert. Er sagt, es wäre dort bergig und im Süden gebe es ein großes Plateau.» Er deutete mit der Hand aus dem Fenster. «Falls du es nicht bemerkt hast: Wir haben gerade eine Bergkette überquert und fahren jetzt über eine große Ebene. Die Bevölkerung von Atlantis betete Poseidon an, so wie es die Minoer taten. Sie verehrte Stiere, genau wie die Minoer. Und Atlantis war in mindestens zehn Königreiche unterteilt, genau wie das minoische Kreta. Und als es schließlich zusammenbrach, fiel es ans griechische Festland, genau wie das minoische Kreta.»
«Soll Atlantis nicht aus schwarzen, roten und weißen Felsen bestanden haben, oder täusche ich mich?», fragte Gaille schelmisch.
«Ganz richtig», meinte Iain. «Das hört sich nicht gerade nach Kreta an, zugegeben, aber es ist eine perfekte Beschreibung von Santorin, dem wichtigsten Außenposten der Minoer. Wir wissen natürlich nicht mit Sicherheit, wie wichtig, aber Santorin war einmal ein Vulkan: der Thera. Er brach in der gewaltigsten Eruption seit Menschengedenken aus, sodass nur noch ein Halbkreis aus Felsen im Wasser übrig blieb. Und dieser Ausbruch ist ein weiterer Hinweis, wie ähnlich sich die minoische Legende und die von Atlantis sind, vielleicht sogar der bemerkenswerteste Hinweis von allen. Platon sagt, dass Atlantis nach einem großen Erdbeben verschwand und nur eine unpassierbare Schlammbank übrig blieb. Der Ausbruch des Thera wird wie ein gewaltiges Erdbeben gewirkt haben, sogar noch in Ägypten, und danach wird die Ägäis für Jahrzehnte nur noch eine dicke Suppe aus Schotter und Asche gewesen sein. Vor allem wird es dem minoischen Reich einen Todesstoß versetzt haben, sodass die Bevölkerung der Gnade und Ungnade derer ausgesetzt war, die sie zuerst eroberten. Und das waren die Mykener, wie sich herausstellte.»
«Wenn du das sagst.»
Sie hatten die Stadt Timbaki erreicht. Iain blinkte und trat auf die Bremse. Für einen Augenblick dachte Gaille erschrocken, er sei über ihren Ton verärgert und wolle sie auf die Straße setzen. Doch er bog nur auf eine Tankstelle. «Warte», sagte er und stieg aus. «Ich muss tanken.»
III
Plötzlich strömten die Konferenzteilnehmer reihenweise in den Pavillon. Offenbar waren die Busse aus dem Hotel angekommen. Nico kam herein und war in ein Gespräch mit einem Mitarbeiter vertieft. Knox gesellte sich zu ihnen, dann gingen sie zusammen aufs Podium, wo ihm die Technik erklärt wurde. Mit einem Mal begannen seine Nerven zu flattern. Vor Publikum zu reden war ihm noch nie leichtgefallen.
«In einer Viertelstunde», sagte Nico. «Okay?»
«Okay.» Er ging hinter der Bühne auf und ab und versuchte sich zu beruhigen, während er ein letztes Mal Augustins Vortrag überflog. Im Publikumsbereich ging das Licht aus, die Bühne wurde heller. Knox setzte sich auf den für ihn vorgesehenen Stuhl. Nico ließ sich für seinen Weg zum Podium Zeit, klopfte dann auf das Mikrophon, um sich zu vergewissern, dass es eingeschaltet war, räusperte sich und genoss den Moment. Der Saal war inzwischen gut gefüllt, auch hinter den Stuhlreihen standen Zuhörer, den Notizblöcken und Kameras nach zu urteilen sogar ein paar Journalisten. Vermutlich hofften sie, Neuigkeiten über Petitiers Tod zu erfahren.
«Bestimmt haben Sie schon von den schrecklichen Ereignissen des gestrigen Nachmittags gehört», begann Nico. «Mein erster Impuls war natürlich, für heute die Veranstaltungen abzusagen. Aber da Sie alle extra für diese Konferenz von weit her angereist sind und es äußerst selten ist, so viele der weltweit führenden Experten für Eleusis an einem Ort zu versammeln, war ich der Meinung, dass wir es der Wissenschaft schulden, trotz der tragischen Umstände fortzufahren. Und ich freue mich, dass so viele von Ihnen der gleichen Meinung sind, wie ich dieser großartigen Resonanz entnehme.»
Da jeder Vortrag für die Nachwelt festgehalten werden sollte, filmte der Kameramann in diesem Moment das Publikum. Dabei kam Knox ein Gedanke. Jeder, der gestern Nachmittag auf der Konferenz
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