Wächter des Mythos (German Edition)
für mich der individuelle Weg zur spirituellen Entfaltung. Das Christentum hingegen sollte, so wie ich es verstehe, einen allgemeinen Weg des spirituellen Zusammenlebens aller Menschen auf der Erde darstellen. Denn Jesus ist für mich der Erleuchtete, der die Menschen auf das ursprüngliche Wesen dieser Welt aufmerksam gemacht hat. Er fordert sie dazu auf, das Göttliche in sich selbst und in der Welt zu erkennen.«
»Als Gesandter des Vatikans müsste ich diese Einstellung als häretisch bekämpfen, weil sich diese Art von Erkenntnis über jegliche Autorität hinwegsetzt und jede hierarchische Organisation mit all ihrer Macht, ihren Dogmen und Konzilen überflüssig macht.«
»Aber Jesus war doch nicht der Gründer einer kirchlich-hierarchischen Organisation, sondern einer neuen spirituellen Gemeinschaft. Außerdem verwandelten sich die Päpste der Vergangenheit ja häufig zu Menschen, die das Gegenteil von dem praktizierten, was Jesus Christus gelehrt hat!
Sie finanzierten Kriege und unterstützen den Sklavenhandel. Manche konnten ja nicht einmal darauf verzichteten, persönliche Sklaven zu besitzen.« Kleine spitze Messer sprühten vor Verachtung aus ihren Augen. »Und hat sich daran wirklich so viel geändert? Auch heute noch leben sie wie Könige im Prunk, besessen vom Gedanken ihrer einstigen Macht.«
Alinas Heftigkeit und Verbitterung trafen Sandino unvorbereitet, ihm fehlten die Worte. Alina erhob sich, um den Pfeffer vom Nachbartisch zu holen, doch genau in diesem Augenblick fuhr ein Etwas, wie aus dem Nichts, in das Fenster, vor dem ihr Tisch stand. Das Glas zersplitterte in tausend Stücke, Scherben flogen durch die Luft. Das plötzliche Bersten von Glas hatte Sandino wie eine Flutwelle erfasst und dermaßen heftig zurückgeworfen, dass er samt Stuhl rücklings auf dem Boden aufgeschlagen war. Als er sich wieder aufraffen wollte, bemerkte er eine klebrige Flüssigkeit an seiner Hand, die sukzessive zu Boden tropfte. Er hatte sich beim Sturz an einer Glasscherbe am Handgelenk geschnitten.
* * *
Sebastiano hatte soeben einen Schuss abgefeuert. Geschickt verdeckte die Jacke, die über seinem Arm hing, die Pistole. Er hielt für einen Moment inne, da er sich zwischen einer Gruppe von japanischen Touristen bewegte, die von seiner Anwesenheit jedoch keine Notiz zu nehmen schienen.
Er nahm seine Zielpersonen wieder ins Visier und fragte sich, ob er im Begriff war, das Richtige zu tun, denn vielleicht hatte das alles ja eine gänzlich andere Bedeutung? Nein, entschied er, er hatte die Botschaft des Herrn richtig verstanden. Wenn es nicht Gottes Wille gewesen wäre, dass er sich jetzt als sein Werkzeug hier an diesem Ort befand, warum hätte er ihn dann so zielsicher hierher gelenkt?
Ohne weiteren Zweifel feuerte er abermals einige Schüsse in die Richtung der beiden Gotteslästerer. Dabei empfand er tiefes Glück, denn nun erschien ihm wie durch ein echtes Wunder ein weiterer Fingerzeig Gottes, der ihm wie ein Gleichnis vorkam: Genauso wie Jesus den Vorhof des Jerusalemer Tempels von den feilschenden Juden gesäubert hatte, so war nun er dazu berufen, den Vorhof der Kathedrale in Burgos von den Ungläubigen zu säubern, welche die Lehre des Herrn mit Füßen traten.
* * *
Total verwirrt hob Sandino den Kopf, eine Kugel hatte Alinas Schulter gestreift, Schmerz und Schock standen in ihrem Gesicht. Er wollte sich gerade wieder aufrichten, musste sich aber erneut in Deckung bringen, als eine weitere Kugel nur wenige Zentimeter an seinem Gesicht vorbeizischte. Sandino unterdrückte einen Schrei des Entsetzens, als die Kugel vor seinen Augen den Putz der Wand in Stücke riss.
Der Schütze musste sich zwischen den Touristen befinden. Alina zögerte keine Sekunde, sondern ergriff Sandinos unverletztes Handgelenk und zog ihn, an ein paar verblüffte Gäste vorbei, hinter sich her. Sie riss die nächstgelegene Tür auf und ließ sie hinter Sandino und sich ins Schloss fallen, dann schob sie den Riegel davor.
»Bleiben Sie ruhig«, flüsterte Alina, als sie sich in Sicherheit wähnte.
Atemlos lehnten sich beide mit dem Rücken an die Tür und realisierten jetzt erst, wohin sie ihre Flucht verschlagen hatte. Sie befanden sich in einer staubigen Abstellkammer, durch ein winziges Fenster drang spärlich das helle Tageslicht.
»Aber wie sollen wir hier jemals wieder lebend rauskommen?«, fragte Sandino kraftlos, seine Hände zitterten. Auch Alina wusste so schnell nicht weiter. Was tun? Sie waren in einer
Weitere Kostenlose Bücher