Wächter des Mythos (German Edition)
abwägend an, bevor er ihre Frage beantwortete. »Während die Kirche festlegt, dass man nur durch den wahren Glauben errettet wird, widerlegt das Thomas-Evangelium dies damit, dass jeder die Fähigkeit zur Entdeckung der Wahrheit in sich selbst trägt. Als Weltlicher würde ich Logion 70 befürworten: ›Wenn ihr jenes‹ , gemeint ist die Fähigkeit zur Erkenntnis, ›in euch erzeugt, dann wird das, was ihr habt, euch erretten. Wenn ihr jenes nicht in euch habt, dann wird dass, was ihr nicht in euch habt, euch töten.‹ «
»Doch mit der Befürwortung von Logion 70 schaufeln Sie sich als Priester ja selbst das Grab. Warum helfen Sie mir? Mir zu helfen bedeutet für Sie doch nur, an den Grundfesten der Kirche zu rütteln!«
»Wie gesagt, ich bin zwar ein Priester, aber auch ein großer Bewunderer der Templer. Was meine Hilfe betrifft, so sehe ich es eben als Berufung, einer armen Pilgerin als Beschützer zu dienen«, gab ihr Sandino vergnügt zur Antwort.
»Aha, ich verstehe!«, sagte Alina lachend. »Ein wahrer Templer steckt also in Ihnen, und jetzt, wo wir auf der Wallfahrt sind, sehen Sie mich als armes schutzloses Opfer. Gut, einerseits sind Sie Priester und andererseits Templer, aber beides hat notabene den Vor- und Nachteil des keuschen Lebenswandels.«
»Für mich ist das eine Frage der Disziplin.«
»Ja, das sagten Sie schon. Anscheinend eine Disziplin, die bekanntermaßen in zahlreichen Religionen gepflegt wird. Was halten Sie als Templer vom Thomas-Evangelium?«
»Ebenso, wie es in dieser gnostischen Schrift steht, halte auch ich als Templer den Menschen nicht für sündig, sondern nur für unwissend. Jesus ist der Erleuchtete, der die Menschen auf ihr ursprüngliches Wesen aufmerksam macht und sie dazu auffordert, sich selbst als Kinder der Schöpfung oder als Gotteskinder zu erkennen, um in das gegenwärtige Königreich von Mutter Erde einzutreten.«
» … denn das Reich ist in eurem Innern, und es ist auch außerhalb von euch … «, sagte Alina nach kurzem Schweigen. »Ein Abriss aus Logion 3, wenn ich mich nicht irre.«
Längst hatten sie die Küstenregion verlassen, als sie in die rotglühende Abenddämmerung hineinfuhren. Allmählich unterbrach lang andauerndes Schweigen ihre Gespräche. Tankstellen, Mautgrenzen und Kaffeepausen begannen sich in unregelmäßigen Abständen abzuwechseln. Sandino war schon mehrmals eingeschlafen, da er mit der Zeitverschiebung zu kämpfen hatte. Gestern erst war er um elf Uhr abends in Nîmes gelandet und hatte seither kaum ein Auge zugetan.
Auch Alina begann, mit der Müdigkeit zu kämpfen, hatte doch auch sie in der letzten Nacht nur wenige Stunden geschlafen. Gegen zehn Uhr war auch Alina soweit, dass sie vor einem Motel anhalten musste. Sie berührte Sandino an der Schulter, um ihn aus seiner Benommenheit zu wecken, er sah sie mit verschlafenen Augen an.
»Ich hätte Ihnen gerne vorgeschlagen, mit mir ein Zimmer zu teilen«, sagte sie schmunzelnd, »aber ich frage mich, ob das klug wäre. Was die Zimmer anbelangt, haben Sie da einen speziellen Wunsch?«
Er lächelte etwas benommen. »Nein, nur ein Zimmer, in dem ich alleine schlafen kann.«
Kapitel 9
Als das Telefon am nächsten Morgen laut schrillte, erhob sich Sandino mit schweren Gliedern. Er zögerte ein paar Sekunden und blickte sich verwirrt im Zimmer um, dann fiel ihm wieder ein, wo er sich befand. Verschlafen schaute er auf das Display des Telefons, woraufhin sich sein Gesicht verdunkelte. Widerwillig betätigte er die Sprechtaste.
» Ja? «
»Josef Kardinal Walter am Apparat.«
»Guten Morgen, Eure Eminenz«, bemühte er sich, in neutralem Ton zu antworten.
»Ich habe sie doch nicht etwa geweckt?! Wo stecken Sie im Augenblick? Ich dachte, ich höre von Ihnen, sobald Sie mit Ihren Ermittlungen vorwärtsgekommen sind?«, heuchelte der Kardinal.
»Priorität hat für mich der Auftrag Seiner Heiligkeit! Ich bin nicht befugt, Sie über jeden meiner Schritte zu informieren.«
»Sie und unsere Zielpersonen sind wohl noch immer in Frankreich, hat Ihr Ausflug denn mit Ihrem Auftrag zu tun?«
»Sie scheinen ja bestens informiert zu sein, Eure Eminenz.«
»Mit Bestürzung habe ich vernommen, dass dieser Gabriel Diaz im Krankenhaus in Avignon liegt?«
»Richtig, er wurde angeschossen. Ich habe das Ereignis gestern in Rom gemeldet. Die ganze Angelegenheit riecht sehr nach einem wiederholten, ernstzunehmenden Skandal, ich werde mich noch eingehend darum kümmern müssen. Alina Chanloy
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