Wächter des Mythos (German Edition)
Blick wanderte zu der alten Zigeunerin. Ihr Lippenstift war verschmiert, ein falsches Muttermal zierte ihre Wange und der Lack blätterte von ihren ausgefransten Fingernägeln. Der Blick aus ihren großen, dunklen Augen schien schicksalhaft.
Während sie sich an einen Marmortisch setzten, gab der Inspektor dem Wirt ein Zeichen. Prompt brachte dieser Oliven, einen Teller mit einigen Scheiben der traditionellen Blutwurst und hauchdünn geschnittenem Schinken, dazu Weißbrot und Wein.
»Essen Sie, Señorita«, sagte die alte Zigeunerin mit besorgtem Blick, »aber nicht zu schnell, das ist Ihnen gewiss nicht bekömmlich.«
Der Inspektor warf ihr einen Blick zu, der ihr klarmachte, dass sie sich zurückhalten sollte, nickte dann aber dem Wirt zu, woraufhin dieser ihr leeres Glas erneut mit Sherry füllte.
»Grazias, Amigo«, sagte die Alte und hob das Glas, um dem Inspektor zuzuprosten.
»Also, wo fangen wir an?«, fragte der Inspektor.
Alina löste ihren Blick von der Zigeunerin und sah den Inspektor erwartungsvoll an.
»Kennen Sie sich?«, fragte sie neugierig und warf einen bedeutsamen Blick auf Sandino.
»Nein«, gab ihr der Inspektor zur Antwort. »Doch wir arbeiten anscheinend gelegentlich für die gleiche Organisation.«
»Für den Vatikan?«
»Oh, nein«, erwiderte der Inspektor lachend, »eher gegen den Vatikan.«
Alina blickte Sandino fragend an.
»Nun«, begann Sandino verlegen, »einerseits bin ich der Kirche als Priester treu ergeben und verhalte mich ihren antiquierten Maximen von Sünde und Knechtschaft gegenüber neutral. Doch andererseits kämpfe ich als Ritter für das Wohl der Humanität; für Freiheit und Gleichheit und die geistige Evolution aller Menschen. Meine Aufgabe ist es, die Kirchenführung diesbezüglich positiv zu beeinflussen.«
Alina verschlug es fast die Sprache. »Dann gehören Sie beide so etwas wie einer Bruderschaft an?«, fragte sie verunsichert.
»Alina«, sagte Sandino mit bittender Stimme, »wir sollten jetzt nicht darüber reden. Wir kämpfen für die gleiche Sache, das soll Ihnen im Moment genügen.«
»Gehört Gabriel auch zu dieser Bruderschaft?«
»Nein. Doch hätten wir von seiner Familientradition gewusst oder, dass Ihr Vater diesen Kelch besitzt, wir hätten uns schon längst darum bemüht. Der Zufall wollte es, dass Gabriel mit Frank befreundet ist und wir so vom Kelch erfuhren.«
»Dieser Frank gehört also auch zu Ihrer Organisation?«
»Ja. Also, Alina«, sagte der Inspektor ruhig, »Sie wissen, dass uns die Templer als Vorbild dienen, daher sind wir auch sehr an diesem Mysterium interessiert. Sie suchen den Weg zum Ziel, ich werde Ihnen bei der Suche gerne behilflich sein. Was kann ich also für Sie tun?«
»Wir waren gerade auf dem Weg nach O’Cebreiro.«
»Weshalb wollen Sie nach O’Cebreiro?«
»Mein Vater hat mir eine Botschaft hinterlassen, die auf den Ort O’Cebreiro weist.«
»Und«, fragte der Inspektor neugierig, »wie lautet diese Botschaft?«
»Nun, es geht um einen rätselhaften Vers«, sagte Alina und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen . » ›All diese Symbole müssen nun weichen, doch Licht noch Schatten wird nicht reichen. Einst wurde in einem Kirchlein Wein zu Blut, dort finde das geheime Zeichengut. Am Pilgerpfad wird das Gemäuer stehen, mit der Muschel kannst Du ihn fromm begehen. «
» ›Wo der Wein wird zu Blut, dort befindet sich das geheime Zeichengut . ‹ Sehr gut«, sagte der Inspektor zufriedengestellt und sah auf die Uhr. »Wenn wir bald losfahren, werden wir am Abend dort sein. Ich kann für uns drei Zimmer reservieren. Vielleicht bleibe ich über Nacht auch dort, aber ich muss morgen früh wieder in Burgos sein.«
Schließlich war die Weinkaraffe geleert und auch die allerletzte Olive gegessen. Der Inspektor bezahlte großzügig die Rechnung beim Wirt. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen, wenn sie vor der Abenddämmerung in O’Cebreiro ankommen wollten.
»Adios, Carmen«, rief der Inspektor der stolzen Zigeunerin kurz vor dem Hinausgehen zu. Als Alina an ihr vorüberging, hielt die Zigeunerin sie zaghaft am Arm zurück.
»Bist du denn nicht auch gekommen, um mich zu fragen, was deine Zukunft für dich bereithält?«, raunte sie ihr mit rauchiger, geheimnisvoller Stimme zu. »Keine Angst, Señorita, von Magie verstehe ich nichts. Und auch, wenn du die Geheimnisse der Sterne ergründen willst, musst du zu jemand anderem gehen. Wenn dir aber noch nie jemand die Hand gelesen hat, dann bist du bei
Weitere Kostenlose Bücher