Wächter des Mythos (German Edition)
konnte.
Das Tischtuch färbte sich rot und Blut schoss aus der Wunde des Angreifers, aus der nun das Küchenmesser ragte. Gabriel hatte getroffen. Doch damit war der Kampf noch nicht gewonnen. Einen flüchtigen Augenblick später lag Gabriel schon mit seinem ganzen Gewicht auf dem Brustkorb des Mannes, den er soeben in seiner vollen Größe in der Tür erblickt hatte. Mit festem Griff hielt er seinen Körper umklammert, wie eine Bestie seine Beute. In diesem Augenblick hatte der Mann den Abzug seiner Waffe erneut betätigt. »Fahr zur Hölle, Morisco …«, waren seine letzten Worte, die er Gabriel ins Ohr zischte, als das Projektil, zur Überraschung des Schützen, in dessen eigenen Körper eindrang und ihm augenblicklich den Tod brachte.
Nachdem der Kriminalkommissar einen Blick über die Schulter eines Kollegen geworfen hatte, der mit großer Sorgfalt den Tatort fotografierte, kam er zu Gabriel herüber. Er war ein echter Schweizer Durchschnittstyp von mittlerer Statur, hatte ein rundes Gesicht und eine Halbglatze.
»Schätze, das hier dürfte unserem Leichenbeschauer keine allzu großen Rätsel mehr aufgeben«, bemerkte er mit einem trockenen Schweizer Akzent. Gabriel nickte mechanisch. Es gelang ihm nicht, seinen Blick von der Markierung des toten Dr. Bernard loszureißen. Dort, wo sein Kopf aufgeschlagen war, hatte sich die Blutlache auf dem weißen Tischtuch inzwischen schwärzlich verfärbt.
»Bei dem schrägen Typ, der Dr. Bernard erschossen hat, scheint es sich merkwürdigerweise um einen Priester aus dem Vatikan zu handeln. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
Gabriel schüttelte abwesend den Kopf. Ruhig ließ er den Schauplatz des Verbrechens auf sich wirken, an dem er sich jetzt nur noch wie ein Statist beteiligt fühlte. Langsam hatte er wieder zu sich als Koordinator der spanischen Terroristenbekämpfung zurückgefunden. Gabriel war es gewohnt, sich ruhig und distanziert auf das Wesentliche zu konzentrieren, dennoch war er sich bewusst, durch die Handlung des ›Priesters‹ in ein Geschehnis verwickelt worden zu sein, das ihn persönlich weitaus mehr anging, als er zugeben wollte. Denn vor seinen Augen war ein Mann erschossen worden, und zwar der mysteriöse Jakobspilger, nach dem er all die Jahre seit Ismaels Tod vergeblich gesucht hatte.
» Fahr zur Hölle Morisco, dein Bruder wartet dort schon auf dich … «, spukten ihm noch immer die Worte des Mörders im Kopf herum. Was hatte der Täter mit seinem Bruder zu tun? Er spürte, wie in einem entlegenen Teil seines Inneren zaghaft eine Ahnung erwachte, die tiefe Frustration und Wut in ihm auslöste. Wut auf eine dunkle Macht, die auch seinen Bruder Ismael auf dem Gewissen zu haben schien.
»Wir haben Ihre Papiere überprüft«, sagte der Kriminalkommissar, respektvoll zu Gabriel gewandt. »Außerdem hat die spanische Behörde soeben Ihre Personalien sowie Ihren kurzen Urlaub in der Schweiz bestätigt. Ich bitte Sie, dieses Protokoll hier zu unterschreiben, danach können Sie über Ihre Zeit frei verfügen. Angesichts Ihrer beruflichen Tätigkeit werden wir Ihre Personalien vertraulich behandeln.
Nun, trotz allem, was hier geschehen ist, wünschen wir Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in der Schweiz.«
Manche Augenblicke im Leben brennen sich unauslöschlich in die Seele eines Menschen ein. Gabriel unterschrieb das Protokoll und verließ das Haus in der Augustinergasse. Er folgte dem Weg zurück zum Münster und blieb verstört vor der mächtigen Fassade des Gotteshauses stehen, das an und für sich als Pforte zu einem Heilsweg dienen sollte, an dessen Ende ein besserer Mensch hervortrat.
Doch hoch zu Pferd zeugte der Drachentöter auf der Fassade des Gotteshauses nur vom Kampf gegen das Böse, das bekanntermaßen über unzählige Arten und Künste der Schädigung und des Schreckens verfügte. Dasselbe verkündeten auch die grotesk wirkenden Gestalten der in Stein gemeißelten Fabelwesen und Dämonen. Doch all diese Fratzen des Bösen, die hier zu sehen waren, trieben ihr schlimmstes Unwesen nicht in der wirklichen Welt, sondern in den Köpfen und Herzen der Menschen.
Trotz des unermüdlichen Kampfes und der jahrhundertealten Beständigkeit der Kirche, so wusste Gabriel, stand es mit dem Heilsweg zum besseren Menschen wie mit so vielem in der Welt nicht zum Besten. Möglich, dass es an der Art und Weise lag, wie die Kirche den Kampf gegen das Böse kämpfte, dachte Gabriel bitter. Ein schmerzlicher Beleg für ihn waren seine
Weitere Kostenlose Bücher