Wächter des Mythos (German Edition)
Ihr Blick war auf die kleine Waffe in der Hand des Priesters gerichtet, die er immer noch umklammert hielt. »Was hast du dir angetan, alter Mann?« fragte sie verzweifelt.
Sandino versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und brauchte einen Moment, bis er merkte, dass er immer noch den kleinen Schlüssel in der Hand hielt, den ihm der alte Priester zugeworfen hatte. Verwirrt starrte er auf den metallenen Gegenstand in seiner Hand. Auch Alina hatte sich etwas beruhigt und konnte wieder einen klaren Gedanken fassen.
»Wofür ist er?«, fragte sie und nahm ihm den Schlüssel aus der Hand.
»Ich weiß es nicht, doch dieser Schlüssel hat wohl mit dem zu tun, was wir hier suchen.«
Alina sah sich zögernd in der Kirche um und ging dann langsam zur linken Apsis, in der die Gerätschaften des Wunders, ein Kelch samt Patene, in einer Vitrine verwahrt wurden.
»Das Blutwunder von Cebreiro«, sagte sie benommen und fügte dann mit leichter Bitterkeit hinzu: »Doch das Blut, das die Altardecke befleckte, rann diesmal nicht aus einem Kelch.«
Sie nahm den Schlüssel, mit dem sich das Schloss des Panzerglases der Vitrine mühelos öffnen ließ, und entnahm ihr vorsichtig den Kelch. Sandino stand verständnislos daneben.
»Wir haben gefunden, was wir suchen«, sagte Alina mit trockener Kehle. Sandino starrte auf das mittelalterliche Gefäß aus dem 12. Jahrhundert.
»Ist das etwa der Schlüssel?«
Alina deutete ein zuversichtliches Lächeln an. »Ja, das ist er wohl, der Schlüssel zum geheimen Code, nachdem wir suchten. Dieser patriarchale Kelch mit lateinischer Inschrift ist das Gegenstück zu dem matriarchalen Kelch meines Vaters mit runenartiger Inschrift. Dieser ganze Mythos dreht sich demnach wirklich um den Geschlechterdualismus und versucht, das Zusammenwirken von männlichen und weiblichen Elementen als Einheit im Universum zu erklärte.«
»Ich dachte, es geht hier nur um verschlüsselte Botschaften?«
»Nein, denn die beiden Zwillings - oder auch Thomas - Kelche dienten als Kultgegenstand zur Initiation. Ihr wahres Mysterium lässt sich wohl nicht mehr im Detail erschließen. Doch immerhin können wir damit die Botschaft der Templer entschlüsseln. Dass dieser galicische Kelch mit jenem meines Vaters irgendwie in Beziehung steht, dass hatte ich schon seit einer Weile geahnt, aber meistens vergisst man ja das Naheliegendste.
Die lateinischen Schriftzeichen auf dem Kelch sind so angeordnet, wie die Zeichen auf dem Kelch meines Vaters. Die Zeichen lassen sich bestimmt den Schriftzeichen zuordnen, wir müssen jetzt nur noch den Anfang bestimmen …«
Alina sank erschöpft auf einer der Kirchenbänke nieder und betrachtete den Kelch in ihren Händen. Benommen strich sie mit der Hand über die kunstvoll eingravierten Zeichen: »Als einem begeisterten Jakobspilger musste meinem Vater die Verwandtschaft der Kelche früher oder später auffallen. Er geht der Sache auf den Grund und kommt schnell an den Punkt, wo er die beiden Kelche nebeneinander analysieren will. Deswegen freundet er sich mit dem Dorfpfarrer an und eines Tages erlaubt ihm dieser, den galicischen Kelch für seine Untersuchung aus der Vitrine zu nehmen. Dann findet der Pfarrer die Wahrheit heraus und erkennt die Bedrohung für seine Kirche. Er fühlt sich verraten und verpflichtet, etwas zu unternehmen. Wahrscheinlich wollte er ihn nur beim Vatikan anschwärzen, um so die Gefahr von seinem Blutswunder-Relikt abzuwenden …«
Vom Kelch in ihrer Hand wandte Alina ihren Blick bekümmert zum Altar, dorthin, wo der tote Leib des alten Priesters lag. Auf Sandinos Lippen lag ein stummes Gebet. »Komm«, sagte er dann leise zu Alina und legte behutsam seine Hand auf ihre Schulter. »Mir gefällt das hier alles auch nicht. Trotzdem, der Priester hatte wohl recht damit, dass irgendwer demnächst hier auftauchen wird. Und dann … dann möchte ich jedenfalls nicht mehr hier sein.«
»Wir können doch nicht einfach so von hier verschwinden …«, sagte Alina hilflos und blickte Sandino mit tränenvollen Augen an.
»Was können wir denn jetzt noch tun? Soll ich Inspektor Rey anrufen? Doch wie auch immer, wir müssen jetzt von hier verschwinden.«
Alina versuchte, sich zusammenzunehmen, und nickte ihm schließlich zu. »Okay, gehen wir erst mal nach draußen an die Luft. Dann rufen wir Inspektor Rey an.«
Gemeinsam verließen sie den Kirchenraum und betraten die freie Kiesfläche. Dort fiel Alinas Blick auf die tote Taube. Verstört zog sie ihr Mobiltelefon aus
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