Wächter des Mythos (German Edition)
die Menschen umbringen will, die das symbolisieren, was im Leben schiefgelaufen ist. Sollen wir für all das büßen , nur weil wir uns als Glaubende benehmen und den Glauben damit ermöglicht haben? Unser ganzes Leben liegt doch in Gottes Hand !«
»Sie meinen, das alles , was bisher geschehen ist, Gottes Wille war?«
» Natürlich «, antwortete der Alte entrückt, »denn seine Wege sind nicht immer unergründlich.«
»Nein, sie sind Gesetz , Knechtschaft und Zorn !«, gab Sandino spottend zur Antwort. »Welch Ironie, meinen Sie nicht auch? All diese Gläubigen, die dazu verdammt sind, an Angst und Furcht zu glauben , anstatt dem Heilsamen den Vorzug zu geben.«
»Gott ist die Liebe !«, murmelte der Alte.
»Das wiederum steht in einem anderen Kapitel, im Neuen Testament. Denn vor Knechtschaft und Furcht wollte uns Jesus ja erlösen ! Und zwar nicht, indem er für uns am Kreuz starb, sondern indem er uns die Augen öffnete und an unsren gesunden Menschenverstand appellierte.«
Für einen Moment herrschte plötzlich tiefes Schweigen, bis der alte Mann zornig seine Worte wiederfand.
»Wer an Gott glaubt, verlässt sich auf Gottes Willen. Der Gläubige hat Vertrauen zum Herrn und verlässt sich nicht auf seinen minderwertigen Verstand. Wehe, wer sich Gottes Ordnung widersetzt! Oder noch schlimmer«, warf der alte Pfarrer bitter ein, »wer in Jesus den Weg aus der Knechtschaft des Gesetzes und der Sünde sieht. Wehe, wer sich gar selbst in herrlicher Freiheit als das leibliche Gotteskind versteht, wie uns die frevlerische Botschaft verkündet!«
»Ist es denn einfacher, an einen Gott zu glauben, der die Menschen nach seinem Willen im Stich lässt oder gar in Verdammnis stürzt?«, gab ihm Alina ungezügelt zur Antwort. »Oder wäre es vielleicht nützlicher , an diesen Gott zu glauben, weil man sich dann nicht dauernd mit dieser Frage herumschlagen müsste?«
»Wenn ich beginne, an Gott zu denken wie der Priester, der alltäglich nur Rituale verrichtet, wo finde ich dann einen gnädigen Gott?«, übernahm Sandino das Wort. »Vielleicht will Gott ja nicht erretten oder jemanden zu sich kommen lassen! Vielleicht hat er uns von vornherein zur Verdammnis bestimmt! Wenn ich als Priester immer nur an Sünden und nicht auch an Vergebung denke, ist es dann nicht so, als ob Gott eine Freude daran hätte, uns im Fegefeuer ewig zu martern ? …«
Der Ausdruck des alten Priesters füllte sich mit tödlicher Bitterkeit. Dann schlichen sich nacktes Entsetzen, Angst und Traurigkeit in seine Augen, als wollten sie dort bis in alle Ewigkeit bleiben. In seinem Blick war kein Winkel mehr, der nicht angefüllt war mit einer abgrundtiefen Furcht. »Für einen Priester ist unser Gott bestimmt nicht verachtenswert, denn andernfalls wären wir verloren .«
»Wie meinen Sie das, Don Ferrari?«, fragte Sandino vorsichtig in einem etwas freundlicheren Ton. Doch anstelle einer Antwort hob der Priester in einer einzigen, zügigen Bewegung den Revolver an seine Schläfe und drückte mit einem lauten Knall ab.
Sandino blieb vor Entsetzen ein hilfloser Schrei im Halse stecken. Er war vollkommen schockiert und fassungslos von dem, was da unmittelbar vor seinen Augen geschehen war. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, als habe die Kugel, die dem alten Priester den Schädel zertrümmert hatte, ihn selbst mitten in die Brust getroffen. Benommen taumelte Sandino auf den Altar zu und starrte auf den Mann, der sich vor ihm das Leben genommen hatte.
Der Priester war von der tödlichen Wucht des Geschosses mit leicht verdrehtem Körper auf dem Altar aufgeschlagen. Seine Augen waren noch geöffnet und schienen mit ihrem intensiven Blick in die Leere zu starren. Ein Schwall aus Blut und Gehirnmasse strömte aus der klaffenden Wunde auf die Altardecke. Langsam verlagerte sich das Gewicht seines Körpers, sodass der alte Kleriker vom Altar zu Boden glitt.
Wie ein Fisch im Todeskampf auf dem Trockenen schnappte Sandino laut nach Luft, als er sah, wie sich die Muskeln des Priesters ein letztes Mal zusammenzogen und ein nervöses Zucken durch den sterbenden Körper fuhr. Nur stockend bemerkte er jetzt Alina. Sandino hörte, wie sie vor Schreck und Missbehagen keuchte.
»Ich war das nicht«, stammelte er verwirrt, worauf sie ihm schluchzend in die Arme fiel. Er packte sie mit festem Griff und versuchte, sie auf den Beinen zu halten.
»Was haben wir dem alten Mann angetan?« flüsterte sie kraftlos. Doch dann dämmerte ihr die Antwort auf diese Frage.
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