Wächter des Mythos (German Edition)
und Satiriker, schreibt: ›Genieß die Gegenwart mit frohem Sinn, sorglos, was immer Dir die Zukunft bringen werde; doch nimm auch bittern Kelch mit Lächeln hin – vollkommen ist kein Glück auf dieser Erde.‹
Als Alina den Brief zu Ende gelesen hatte, geriet sie etwas ins Grübeln. Denn unter all seinen abstrakten Kostbarkeiten schenkte ihr Vater diesem Kelch, nun Templer-Relikt genannt, am meisten Aufmerksamkeit. Warum? Sein Sammeltrieb hatte es zwar gelegentlich auf die seltsamsten Dinge abgesehen, aber sein Verhalten gegenüber diesem Kelch war schon immer ziemlich sonderbar. Sie erinnerte sich, wie er ihn ab und zu hochgehalten und etwas vor sich hingeflüstert hatte, beinahe ehrfürchtig hatte er dabei gewirkt.
Ja, was hatte er denn dabei gesagt? Sie dachte nach und vergegenwärtigte sich diese Augenblicke.
»Dabei sagte er …«, Alina lag es auf der Zunge, »ja, was , verflixt noch mal, sagte er dabei?« Sie strich sich ärgerlich das Haar zurück und verdrängte die anderen Gedanken, dann kamen ihr die ersten Worte wieder in den Sinn. Die Worte waren: vetustatem novitas , dabei war sie sich ziemlich sicher. » Vetustatem novitas und …? Umbram fugat veritas .« Ja, jetzt konnte sie sich daran erinnern. Es war sein lateinischer Lieblingsspruch, etwas abgedroschen, der etwa soviel hieß wie: Vor der Wahrheit muss das Zeichen, vor dem Licht der Schatten weichen. Doch wie kam er auf einmal dazu, aus seinem Kelch ein Templer-Relikt , oder, um es noch zu steigern, den ›mysteriösen Gral‹ zu machen?
Alina merkte, dass sie sich zu ärgern begann wegen der albernen Geheimnistuerei ihres Vaters. Es schien, als mache er jetzt aus einer Mücke einen Elefanten. Sie hätte ihm am liebsten Folgendes auf seinen Brief geantwortet: Lieber Pa, ich glaube durchaus, dass an Deiner Theorie etwas dran sein könnte. Aber Du weißt ja, wie es damit ist! Dieses Thema ist so verpönt, dass es akademischem Selbstmord gleichkommt, sich überhaupt dafür zu interessieren. Inzwischen will niemand mehr öffentlich dazu stehen, dass er das Grals-Thema ernst nimmt. Ebendarum, weil es viel zu viele doofe Spinner gibt, die hierfür alle nur möglichen wilden Verschwörungstheorien entwickeln.
Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, war sie dennoch bereit, sich einen kurzen Überblick über das Gralsthema zu verschaffen, bevor sie sich an das chiffrierte Rätsel ihres Vaters machte. Sie rief also eine Suchmaschine auf und gab den Begriff »Gral« ein. Die Links führten überwiegend zu populär- und pseudowissenschaftlich orientierten Websites, meistens mit Fragen nach dem Gral im Zusammenhang mit einem wunderkräftigen und heiligen Blut-Christi-Relikt . Dabei ging es entweder um den Kelch, den Christus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern benutzt hatte, oder um den Kelch, in dem Josef von Arimathäa sein Blut unter dessen Kreuz aufgefangen haben sollte.
Nun, etwas anderes hatte Alina gar nicht erwartet, dennoch ging sie die Liste der Treffer durch, bis sie schließlich auf eine Website mit folgendem Text stieß: »Lohnenswert ist die alte vorromanische Kirche, sicherlich die älteste auf dem Camino de Santiago, mit einem wundersamen, romanischen Kelch, der von einigen als der Heilige Gral angesehen wird . «
Sie surfte herum, bis sie eine Seite mit näheren Informationen fand. Dabei ging es um den galizischen Gral von O’Cebreiro. Das gleichnamige Hospiz auf 1.330 Metern Höhe war einer der ersten Versorgungspunkte für Pilger auf dem Jakobsweg und stammte aus der Anfangszeit der Wallfahrten. Der Kelch und eine Patene aus dem 12. Jahrhundert erinnerten an ein Blutwunder, das sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts dort ereignet haben soll. Alina las den kurzen Text der Legende:
»An einem sehr eisigen Wintertag stieg ein Bauer aus Barxamaior den beschwerlichen Weg zum Kloster des O’Cebreiros herauf, um trotz heftigen Unwetters am Gottesdienst teilzunehmen. Der Geistliche, ein Mönch, der die leibliche Gegenwart Christus in der Eucharistie bezweifelte, missachtete den guten Willen und die Mühe des Gläubigen. Deshalb geschah es, dass während seiner Worte der Weihung die Oblate sich in rohes Fleisch und der Wein im Kelch sich in Blut verwandelte.
Das frische Blut rann aus dem Kelch und befleckte die Altardecke. Weiter wurde berichtet, dass die hölzerne Madonnenstatue der Kapelle den Kopf in Hochachtung vor dem Wunder geneigt haben soll. Daher nennt der Volksmund diese Skulptur auch Madonna des Heiligen
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