Wächter des Mythos (German Edition)
Wunders.«
Alina schmunzelte, denn für sie war das eine von diesen bezaubernden Legenden, die sie auch als Archäologin liebte. Ihr Vater war der Meinung, dass Sagen und Legenden trotz ihrer Übertreibung uns manchmal einiges mehr über die Vergangenheit verrieten, als ein paar Mauerreste und Keramikscherben. Während sie nun die Seiten durchging, fiel ihr Blick auf die Abbildung eines Kelches, der eine große Ähnlichkeit mit demjenigen ihres Vaters aufwies.
Irgendetwas sagte ihr, dass sie soeben über einen Stein gestolpert war, der sich zu verschütteten Mauerresten zusammenfügen ließ. Doch damit das Ganze auch Gestalt annahm, brauchte sie mehr Teile dieses Puzzles. Alles, was ihr im Moment dazu einfiel, war, dass es diesen schnellen Recherchen zufolge einen Kelch gab, der dem ihres Vaters glich und der … nun ja, zumindest aus derselben Zeit zu stammen schien. Außerdem war dieser zweite Kelch am Jakobsweg zu finden. Doch wo hatte ihr Vater seinen Kelch her? Nun, daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie wollte jetzt auch nicht den ganzen Tag hier herumhängen, sie musste ja bald wieder in den Tempel zurück.
* * *
Das weitläufige Insight Meditation Center befand sich in einem relativ ruhig gelegenen Bereich ganz in der Nähe des Haupttempels. Durch Fragen hatte Gabriel das Sekretariat gefunden, wo ihn jetzt eine Nonne über die Theke hinweg mit strengem Blick durch ihre goldgefasste Brille musterte.
»Ja, diese Frau Alina aus Basel ist bei uns, um sich in die Vipassana-Meditation zu vertiefen«, antwortete sie ihm auf englisch.
»Ich muss sie wirklich dringend sprechen, ich bin extra ihretwegen hierhergekommen.«
»Sie befindet sich jetzt gerade in der Schlussphase ihres dreiwöchigen Retreat und sollte daher nicht gestört werden.«
»Aber ich muss sie dringend sprechen, es ist wirklich sehr wichtig. Ich bin von Basel nach Thailand geflogen. Können Sie mich nicht kurz zu ihr bringen?«
»Nein, Sie dürfen das Meditation Center nicht einfach so betreten.«
Gabriel wurde klar, dass er der Entschiedenheit dieser Dame nichts entgegenzusetzen hatte. Er merke, wie alle Anspannung von ihm abfiel.
»Alles«, hob sie erneut an, »was ich Ihnen daher anbieten kann, ist, dass Sie selbst ins Kloster eintreten, wir haben noch Plätze frei. Danach können Sie sich hier frei bewegen.«
»Ach, wirklich ? Und was für Konsequenzen hat dieser Eintritt für mich?«
»Sie bekommen Ihr eigenes Kuti , einen Bungalow mit Dusche und WC. Frauen und Männer wohnen in getrennten Bereichen. Geschlafen wird auf dünnen Matratzen, die direkt auf dem Beton- oder Holzboden aufliegen. Frühstück gibt es um sechs Uhr und Mittagessen um elf Uhr. Es gibt immer zwei bis drei Gerichte und manchmal auch Früchte. Nach zwölf Uhr sollten Sie keine Speisen mehr zu sich nehmen. Getränke wie Milch, Tee, Kaffee und Joghurt sind erlaubt. Das Trinkwasser wird hier gefiltert und ist daher problemlos genießbar.«
»Ist das alles?«
»Wir nehmen Sie jedoch nur auf, wenn Sie bei uns auch praktizieren wollen.«
»Sie meinen, ich muss an dem Retreat teilnehmen.«
»Richtig, sind Sie damit einverstanden?«
»Ja, doch ich weiß nicht, wie lange ich bleiben kann.«
»Das Retreat startet nach der Eröffnungszeremonie, danach sind die Regeln einzuhalten. Jeder Teilnehmer verpflichtet sich, die acht Tugenden, Silas genannt, zu befolgen. Ihre Kleidung werden Sie von uns erhalten. Sie ist von weißer Farbe, bequem und angemessen, es sind keine Shorts oder ärmellosen T-Shirts erlaubt. Das Wecken erfolgt um 4 Uhr. Ist das für Sie in Ordnung?«
»Nun ja, mir bleibt wohl keine andere Wahl, und die weiße Kleidung würde gut zu meiner dunklen Haut passen«, scherzte Gabriel.
»Ich möchte Sie daran erinnern, die acht Tugendregeln einzuhalten, die es den nicht ordinierten Praktizierenden ermöglichen, ein Leben zu leben, das dem eines Mönches oder einer Nonne näher kommt – wenn auch nur für kurze Zeit – so wie in Ihrem Fall. Nehmen Sie diese Kopie und lesen Sie die acht Tugendregeln durch. Wenn Sie damit einverstanden sind, erhalten Sie von uns Ihre Kleidung sowie den Schlüssel zum Kuti .«
Sie unterbrach sich kurz, um auf ihre Uhr zu schauen, und fuhr dann fort. »Sie haben noch genügend Zeit, sich umzuziehen, bevor die Eröffnungszeremonie beginnt. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
»Ich kann mich im Tempel also frei bewegen. Was ist, wenn ich den Tempel wieder verlassen möchte?«
»Gewiss können Sie den Tempel nach
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