Wächter des Mythos (German Edition)
auf sie. Nun, mit dem Leben in der Schweiz war ja sowieso jetzt Schluss, zumindest fürs Erste. Im Moment würde sie sich damit begnügen, einen unbeteiligten Blick auf ihre bisherige Vergangenheit zu werfen und über ihr Leben zu reflektieren.
Als der Kaffee endlich kam, war in der Zwischenzeit auch ihr Computer hochgefahren und mit dem Internet verbunden. Sie neigte sich vor, strich sich das Haar zurück, setzte ihre Brille auf und überflog ihre Mail-Liste, wobei nur wenige Nachrichten wirklich an sie, Alina Chanloy, gerichtet waren. Als Erstes öffnete sie die Mitteilung ihres Vaters. Er schrieb über seinen neuesten Artikel, der soeben in Basel veröffentlicht worden war.
Neugierig und stolz auf ihren Vater öffnete sie sofort das Dokument, das er seiner E-Mail beigefügt hatte. Sie überflog den Artikel und musste schmunzeln, weil sich ihr Vater auf einen populären Bestsellerautor bezog, der seine Halbwahrheiten als historische Tatsachen verkaufte und deshalb immer wieder für öffentliche Diskussionen sorgte. Sie wusste, wie sehr ihr Vater gerade solche Geschichten liebte, in denen sich für ihn, genauso wie in der Bibel, die Fiktionen unserer Wirklichkeit widerspiegelten. Gott und die Welt, ein menschlicher Jesus mit Gefährtin und Sohn, Kelch und Tempelritter, dass waren Themen, über die er gerne schrieb.
In der Mitte seines neusten Artikels war ein Foto abgebildet, auf dem ein Kelch zu sehen war. Vom Thema Gral hatte er oft gesprochen, doch wann immer die Sprache darauf gekommen war, so hatte sie den Eindruck, war er dabei etwas reservierter gewesen als bei anderen Themen – so, als hätte er etwas zu verbergen. In seinem Artikel brachte er nun ganz offen zur Sprache, was der Gral in Wirklichkeit für ihn bedeutete. Als sie das Foto genauer betrachtete, erkannte sie den Kelch wieder. Er gehörte zu den Antiquitäten ihres Vaters, ein mittelalterliches Kleinod, das er vorwiegend verborgen hielt und so hütete wie seinen Augapfel.
Das Foto zeigte zwar nur einen bestimmten Ausschnitt seines Schatzes, doch diesen dafür in aller Brillanz und Schärfe. Alina las die Bildlegende, die darunter stand: Dieser Kelch aus dem 12. Jahrhundert könnte das so frenetisch begehrte Templer-Relikt, genannt Gral, sein. Es darf jedoch nicht mit den christlichen Legenden um den Heiligen Gral oder dem Blut-Christi-Relikt verwechselt werden.
Sie war erstaunt, auch weil er hier ausdrücklich von einem Templer-Relikt sprach. Dann las sie die E-Mail, die ihr Vater ihr zu dem Artikel geschrieben hatte:
Meine liebe Alina,
was hältst Du von meinem neusten Artikel? Bist Du der Meinung, ich bin der Sache auf den Grund gegangen, oder hältst Du das etwa alles nur für ein noch viel größeres Hirngespinst?
Nun, was auch immer Deine Meinung ist, mir liegt der Wunsch auf dem Herzen, das Du Dich demnächst mal mit diesem ›Templer-Relikt‹ vertraut machst. Ich weiß, es tönt ein bisschen ungewöhnlich, doch ich habe Vorbereitungen getroffen, um Dich in ein sehr altes Mysterium einzuweihen. Sicherlich kommt Dir das jetzt alles noch ziemlich ›spanisch‹ vor, doch Du wolltest Dich ja bei Gelegenheit selbst einmal auf den Camino de Santiago begeben. Da dieser Weg Teil des Mysteriums ist, wirst Du Gelegenheit dazu haben, ihn teilweise kennenzulernen.
Freilich ist der ganze Weg einzigartig, wie Du ja weißt, und bereichert jeden. Seine mittelalterlichen Klöster, Kirchen und Brücken inmitten von bezaubernden Landschaften sind echte Baudenkmäler von historischer und künstlerischer Bedeutung. Doch damit nicht genug, es erwarten Dich vor allem auch Menschen, die dem tausendjährigen Brauch folgen. Und glaube mir, Alina, diese Pilger sind nicht weniger spirituell als jene Menschen, die Du im ›Insight Meditation Center‹ in Thailand antriffst. Vielleicht mit einer Ausnahme: Ein Pilger beschreitet den Weg der inneren Veränderung auf andere Art und Weise. Also, Alina, vergiss nicht, um was ich Dich gebeten habe. Ich will Dich dazu ja nicht drängen, doch mir liegt viel an der Geschichte. Ich verspreche Dir, es wird ein Abenteuer auf körperlicher und spiritueller Ebene, und ich hoffe, Dich bald wieder in meinen Armen zu halten.
Ich habe da noch ein Rätsel für Dich, das Du Dir ja gelegentlich einmal vornehmen kannst. Es lautet: 8-1-2-5 • (=)? • 4(Audio) • 4ICH • 9-13 • (=)?+4AUSzwei • BEDECKT • Ich hoffe • Du nimmst Dir Zeit und findest die Lösung!
In Liebe, Dein Vater
P. S.: Horaz, ein römischer Dichter
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