Wächter des Mythos (German Edition)
moralischen und ethischen Herausforderungen. Doch ich habe heute wirklich noch nicht allzu viel feste Nahrung zu mir genommen.«
» Nicht? «, fragte sie spitz.
» Nein «, sagte Gabriel missmutig und entdeckte dabei das kleine goldene Kreuz, das sie um ihren Hals trug. »Es war nur ein kümmerliches Sandwich. Doch etwas anderes: Wie weit geht Ihre Religiosität? Antworten Sie mir nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich danach frage.«
»Nein, fragen Sie nur.«
Er grinste. »Sind Sie zu diesem Gott verlassenen Ort gepilgert, weil jemand sich einbildet, hier unter dem alten Bodhi-Baum die Jungfrau Maria im Schneidersitz gesehen zu haben?«
»Nein, da kann ich Sie beruhigen«, antwortete sie lächelnd. »Es geht in diesem Tempel um den Buddhismus und nicht um das Christentum.«
»Ich nehme an, was dieses Christentum anbelangt, sind Sie wohl kein besonders religiöser Mensch.«
»Nun, sagen wir es einfach einmal so; ich respektiere Jesus und Buddha als meine spirituellen Meister. Denn der Mensch kann auf zweierlei Weisen zu Erkenntnissen gelangen.«
»Und auf welche Weisen?«
»Zum einen, indem er, so wie Jesus, die Erscheinungen der Welt beobachtet. Zum anderen, indem er, so wie Buddha, seine Sinne verschließt und sich von allen Erscheinungen der Welt abkehrt.«
»Und Sie bevorzugen die buddhistische Weise, sonst wären Sie ja nicht hier?«
»Stimmt. Doch bei Jesus zeugen die zahlreichen Gleichnisse aus der Natur und menschlichen Gesellschaft von seinem Weg der Erkenntnis. Der Lehre Buddhas zufolge lässt sich die Erkenntnis unmittelbar durch Meditation erfahren. Ich bevorzuge den direkten Weg, bin jedoch nicht abgeneigt, auch aus den Dingen der Natur meine Erkenntnisse zu ziehen.«
»Als einen Weg der Erleuchtung habe ich das Christentum bisher nicht gekannt, eher als einen Weg des Glaubens und der Wunder.«
»Für mich bräuchte es da eben schon etwas Überzeugenderes, ehe ich über den halben Globus tingele«, entgegnete sie ironisch.
»Überzeugenderes? Sie meinen, Sie bräuchten einen anderen Grund als den Glauben an ein Wunder?«, fragte Gabriel lächelnd.
»So etwas in der Art.«
»Nun, wenn ich da an meinen leeren Magen denke, vertraue ich doch lieber auf ein Wunder.«
Sie sagte nichts, sondern lächelte ebenfalls.
»Was ist?«
»Ich fürchte, Sie müssen mit Ihrem Problem schon bis morgen warten, ich kann Ihnen da auch nicht weiterhelfen. Doch am Abend gibt es hier immer Sojamilch. Vielleicht hilft das etwas, mit diesem Problem fertig zu werden. Ich wünsche Ihnen trotzdem einen angenehmen Abend.«
»Danke, und nichts für ungut«, rief er ihr nach, als sie sich einer Frau zuwandte, um mit ihr die Kutis der Nonnen aufzusuchen.
Auf dem großen Gelände gab es Bungalows für Mönche und Nonnen, zwei Meditationshallen, eine Küche und einen Speisesaal sowie weitere Gebäude. Gabriel war auf dem Weg zu seinem eigenen kleinen Häuschen mit der Nummer 85 und in Gedanken immer noch bei der jungen Frau. Als er um eine Ecke bog, wäre er fast mit der Nonne von der Anmeldung zusammengestoßen. Sie lächelte ihm erfreut zu, als sie ihn erkannte.
»Haben Sie mit Alina gesprochen?«
»Nein, ich bin ihr noch nicht begegnet.«
»Aber sie hat Sie doch vorhin bei der Eröffnungszeremonie begleitet!« Gabriel sah sie bestürzt und ungläubig an.
» Wirklich? …«, sagte er nun baff. »Ich wusste nicht, dass das Alina war. Ich muss dringend mit ihr sprechen, am besten sofort.«
»Ich denke, Sie haben vorhin Ihre Chance verpasst. Nun müssen Sie sich bis morgen gedulden, Sie wissen ja jetzt, wie sie aussieht.«
Sie nickte ihm kurz zu und ließ ihn stehen. Immer noch wie versteinert konnte er kaum fassen, was ihm soeben widerfahren war. Den ganzen weiten Weg hierher war er nur wegen dieser Frau gekommen. Und als sie dann vor ihm gestanden hatte, hatte er nicht gewusst, dass es Alina war.
Missmutig lief er zwischen der endlosen Reihe von Kutis hindurch, wo ihn plötzlich der abendliche Alltag der Mönche mit ihren orange leuchtenden Gewändern überraschte. Heiteres Gelächter erklang aus den engen Bungalows, fröhliche Kinder-Novizen und Hunde liefen ihm über den Weg. Oft standen die Türen offen und man sah die Mönche in Gesellschaft. Trotz der monotonen Gleichheit der Kutis strahlten sie den individuellen Charme ihrer Bewohner aus. Von Vögeln in Käfigen bis zu Katzen und Hunden, die teilweise auf der Fußmatte lagen, sowie kleine Hightech-Küchen daneben ließen Gabriel ahnen, dass
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