Wächter des Mythos (German Edition)
der Schlusszeremonie jederzeit verlassen. Solange Sie niemanden stören, können Sie sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Tempels frei bewegen. Ich bitte Sie jedoch, an Ihre Meditationspraxis zu denken und diese erfolgt meistens in Ihrem eigenen Bungalow. Sonst noch was?«
Gabriel nahm nun die Kopie und las sich die Tugendregeln leise durch. »Die acht Regeln zu befolgen heißt für mich:
1. nicht zu töten (auch keine anderen Lebewesen)
2. nicht zu stehlen (etwas nehmen, was nicht gegeben wurde)
3. keine sexuelle Aktivität ausüben (eigensüchtige Handlungen)
4. keine üble Rede verbreiten (Lügen, Hintertragen, grobe Worte)
5. keine bewusstseinsmanipulierenden Substanzen einnehmen
6. kein übermäßiges Essen (keine feste Nahrung nach 12 Uhr mittags)
7. keine Unterhaltungsdarbietungen, Schmuck, Parfum, Kosmetik
8. keine luxuriösen Schlafstätten (ebenso wie übermäßiger Schlaf)«
Gabriel hielt einen Moment nachdenklich inne.
»Nein«, antwortete er dann verblüfft über die Einfachheit und Klarheit der Regeln. Doch, so wusste er, die meisten Menschen hätten Mühe, diese simplen Regeln zu befolgen.
Sie lächelte ihm freundlich zu.
»Ich brauche Ihren Ausweis. Hier ist Ihre Kleidung und der Schlüssel zum eigenen Kuti , die Eröffnungszeremonie findet in einer halben Stunde statt. Es wird Sie jemand bei der Zeremonie begleiten.«
* * *
Alina wippte einen Moment lang nachdenklich mit dem Stuhl hin und her, und wühlte dann kurz entschlossen in ihrer Tasche. Sie zog Kugelschreiber und Papier hervor, um noch schnell das Rätsel ihres Vaters zu knacken, bevor sie wieder zum Tempel musste. In diesem Augenblick sah sie Ding, der vom Computerspielen gelangweilt zu ihr kommen wollte. Ungeduldig signalisierte sie ihrem Cousin, dort zu warten, wo er war, denn wieder einmal hatte der zehnjährige Ding genau den falschen Augenblick abgepasst.
» 8-1-2-5 • (=)? • 4(Audio) • 4ICH • 9-13 • (=)?+4AUSzwei • BEDECKT • Ich hoffe • Du nimmst Dir Zeit und findest die Lösung! «
Ihr Vater war manchmal voller Marotten und eine dieser Leidenschaften waren seine Rätsel, eine andere waren Aphorismen oder philosophische Gedankensplitter, wie er es nannte. Sie war es inzwischen gewohnt, die Rätsel ihres Vaters zu knacken, und sah auf ihre Uhr, um sich auszurechnen, wie lange sie wohl brauchen werde. Dabei erschrak sie, denn sie hatte sich zu lange mit seinem Brief beschäftigt. Das Rätsel musste sie auf morgen verschieben, dafür war jetzt keine Zeit mehr. Sie hatte sich schon verspätet und sollte nun in den Tempel zurück.
* * *
Etwa eine Stunden später verließ Gabriel, gefolgt von einer sympathischen jungen Frau, den Raum, in dem nun die Eröffnungszeremonie stattgefunden hatte. Sie war ihm bei der Zeremonie behilflich gewesen, hatte sich zuvor jedoch verspätet. Daher war auch keine Zeit geblieben, um sich gegenseitig vorzustellen. Nach ihrem Aussehen hielt er sie für eine Spanierin, denn ihr Hauttyp und ihr schwarzes Haar vermittelten südeuropäische Nuancen.
Aus seinem Akzent musste sie seine Muttersprache sofort erkannt haben, denn sie sprach jetzt in einem guten Spanisch zu ihm, obwohl es offenbar nicht ihre Muttersprache war. Beide standen etwas zögernd vor dem Eingang.
»Das ging ja im Schnellverfahren«, sagte Gabriel lächelnd.
»Es ist jeden Tag dasselbe«, sagte die junge Frau lächelnd. »Menschen kommen und gehen, das ist natürlich. Man muss ja nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen.«
»Ich entscheide mich aber nicht alle Tage dafür, in eine Ordensgemeinschaft einzutreten, auch wenn mein Kopf schon kahl geschoren ist. Für mich ist das schon etwas Besonderes. Wann gibt es denn Abendessen?«
Sie lachte. »Sie bekommen hier nur zwei Mahlzeiten am Tag, eine um sechs Uhr morgens und eine um elf Uhr mittags.«
»Und was ist mit der übrigen Zeit?«
»Fastenzeit.«
» Wirklich? «, fragte Gabriel entsetzt, denn er hatte außer dem Frühstück und einem Sandwich auf dem Weg hierher noch nichts gegessen.
»Ja, feste Nahrung ist ab zwölf Uhr nicht mehr erlaubt.«
»Ich nehme an, Sie nutzen das hier nicht bloß als Vorwand?«, meinte er ironisch, obwohl er sich jetzt wieder an diese Regel erinnern konnte.
»Sie scherzen.«
» Ach , und weswegen ist denn diese Fastenzeit?«
»Es liegt doch gerade hier am Ort besonders nahe, ein bescheidenes und spirituelles Leben zu führen, nicht wahr?«
»Sie haben recht, es mangelt hier in der Tat nicht an
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