Wächter des Mythos (German Edition)
während sie am Fuße der Gartenpforte zwischen den Steinen nach dem Schlüssel kramte. Sie brauchte eine Weile, bis sie ihn gefunden hatte. Als das Schloss nachgab, stieß sie das Gartentor auf und betrat den kurzen Kiesweg.
Das Haus war von Korkeichen, Zedern und Akazien umgeben, vereinzelt konnte man auch ein paar Blumenbeete erkennen. Alina betrat ohne zu zögern das Haus, während Gabriel an der Türschwelle stehen blieb, um sich nach allen Seiten umzusehen. Doch obwohl er nichts Verdächtiges entdeckte, konnte er das unangenehme Gefühl des Beobachtet-Werdens nicht ganz loswerden.
Im Erdgeschoss gab es ein riesiges Wohn- und Esszimmer mit einem großen Kamin, das Vestibül mit einer kleinen Tür unter der Treppe und eine große Küche. Alina führte ihn die knarrende Holztreppe in den ersten Stock hinauf. Hier gab es, eingezwängt unter dem Hausdach, zwei Zimmer und ein großes Bad.
Das eine war das Schlafzimmer ihres Vaters. Das andere, zweifellos seit Langem nicht mehr benutzt, wies Alina mit einem entschuldigenden Lächeln Gabriel zu.
»Wenn du ein Bad nehmen möchtest, kannst du das jetzt gerne tun. Ich werde uns in der Zwischenzeit eine kleine Mahlzeit zubereiten.«
Alina schnitt gerade die frischen Kräuter, die sie aus dem Garten geholt hatte, als Gabriel frisch geduscht ins Erdgeschoss kam. Er setzte sich am Ende des Küchentischs auf einen Stuhl und beobachtete, wie Alina Schritt für Schritt die Zutaten so präparierte, dass am Ende ein leckeres Abendessen daraus entstand.
»Ich warne dich lieber«, erklärte sie, »aber ich habe hier nicht alle Zutaten, die ich brauche, trotzdem, ich werde daraus schon etwas den Umständen Entsprechendes à la française zubereiten, lass mich nur machen.«
Es war lange her, dass Gabriel eine Frau so geschickt ein Essen hatte vorbereiten sehen. Weil er in der Stadt fast immer nur im Restaurant aß, hatte er beinahe vergessen, dass das Vergnügen des Essens mit der Zubereitung begann. Gabriel begann, sich wohl zu fühlen.
»Hier also hat dein Vater seine privaten Nachforschungen angestellt«, begann Gabriel und schaute Alina weiter beim Kochen zu.
»Ja, auf den ersten Blick mag das wohl nicht so aussehen. Doch wenn man mal das Kellergewölbe unter diesem Haus gesehen hat, wird man sehr schnell eines Besseren belehrt.«
»Was hatte er dort unten denn alles so ausgebrütet?«
»Oh, er hat da viel über die Kirche und das sogenannte Heilige Buch nachgedacht. Von der Zeitung, für die er gelegentlich schrieb, wurde er darum gebeten, in seinen Artikeln zu Thesen Stellung zu nehmen, die seit der Veröffentlichung berüchtigter Religions-Thrillers mitunter für scharfe Diskussionen sorgten: War Jesus verheiratet und hatte er Kinder? Wer sitzt auf Da Vincis Abendmahl links neben Jesus? War Judas gar kein Schurke? Was ist der Gral? All diese und andere populäre Fragen, für die sich die Allgemeinheit so interessiert.«
»Dein Vater hatte also seine Meinung zu diesen Thesen veröffentlicht. Und welche Meinungen hatte er vertreten?«
»Nun ja, was die Ehe betraf, so war er der Meinung, dass Jesus zwar nicht mit Magdalena verheiratet, dass sie vielleicht aber trotzdem seine Lebensgefährtin war. Jesus selbst wurde ja auch als uneheliches Kind geboren, wieso sollte er da besonderen Wert auf gesellschaftliche Konventionen legen?«
»Jesus als uneheliches Kind geboren?«, gab sich Gabriel erstaunt.
Alina blickte auf, sie war dabei, ein Putenfilet in Stücke zu schneiden. Sie legte das Messer zur Seite und sah ihm geradewegs in die Augen.
»Nun, der Bibel zufolge wurde seine Mutter Maria im heiratsfähigen Alter, damals so mit elf Jahren, während der Verlobungszeit mit Josef schwanger. Die Bibel betont, dass Maria noch nicht mit Josef verkehrt hatte, er war also nicht der Vater. Was immer man glauben will, wie es zu der Schwangerschaft gekommen ist, Jesus ist auf jeden Fall unehelich geboren.
Einer historischen Überlieferung zufolge entstammt Jesus auch nicht ›von Gott‹, sondern ganz einfach von einem anderen Mann. Maria soll von einem römischen Soldaten ›geschändet‹ worden sein, was historisch gesehen natürlich realistischer erscheint als die Jungfrauengeburt. Im Evangelium von Markus wird Jesus daher auch ›Marias Sohn‹ und nicht ›Josefs Sohn‹ genannt. Auf diese Weise wurden damals nur unehelich geborene Kinder bezeichnet.
Auch im Johannesevangelium wirft man Jesus indirekt vor, dass er unehelich geboren sei. Selbst Matthäus und Lukas sind
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