Wächter des Mythos (German Edition)
mit ihren Stammbäumen gegen die Annahme angetreten, dass Jesus kein Jude war, und schon gar nicht aus einer legitimen Beziehung stammte. Weil eine solche Annahme den gesellschaftlichen Konventionen widerspricht, hat man sich eben auf die Jungfrauengeburt geeinigt.«
»Doch ist es da nicht nahe liegend, dass Jesus gerade wegen seiner Außenseiterrolle in Familie und Heimatstadt geheiratet hat?«
»Wird davon in der Bibel etwas erwähnt? Also. Daher ist es glaubhaft, dass Jesus keine Heirat angestrebt hat. Wenn er mit seiner Lebensgefährtin ein Kind gezeugt hat, ist es wohl, genau wie er selbst, unehelich geboren worden.«
Gabriel schwieg und beobachtete, wie Alina das Fleisch in einer Mischung aus Butter und Öl anzubraten begann. Er bewunderte ihre geschmeidigen und behutsamen Bewegungen beim Kochen, ihre Art, die Pfanne zu halten, um das Fleisch zu wenden.
»Und was ist mit Da Vincis Abendmahl?«, fragte er, ohne seinen Blick von ihren Händen zu lassen.
»Ich weiß nicht, wie Dan Brown in seinem Roman eine so haltlose Theorie aufstellen konnte, indem er Johannes zur Braut werden ließ. In der bildenden Kunst wird dieser Jünger in der Regel ja als einziger aus dem Kreis der Apostel bartlos dargestellt und das hatte auch seinen Grund. Da Johannes erst unter Kaiser Trajan gestorben ist, muss der Lieblingsjünger zu Lebzeiten von Jesus sehr jung gewesen sein, also ein bartloser Knabe von etwa zwölf Jahren.
Wenn Brown hingegen neben Jesus den Gral sitzen sieht, liegt er damit nicht völlig daneben. Denn in der Ikonografie ist das Attribut des Johannes eben der Kelch mit Schlange, daher kann der heilige Gral, allegorisch betrachtet, den Lieblingsjünger Johannes symbolisieren.«
»Hat denn dein Vater den Gral mit dem Apostel Johannes in Verbindung gebracht?«
»Das kann ich so nicht beantworten. Doch wenn wir von der Blutlinie Jesu reden, so könnte der Lieblingsjünger Johannes vom Alter her der Sohn von Jesus und Maria Magdalena gewesen sein.«
Diesmal war Gabriels Erstaunen echt. Er blickte sie leicht irritiert an, während Alina Tomaten und Paprikaschoten auf einem Holzbrett zu würfeln begann.
»Ist das denn nicht auch an den Haaren herbeigezogen, so wie diese Abendmahl-Theorie?«
»Nein. Der Überlieferung zufolge war Johannes der Lieblingsjünger von Jesus, der beim letzten Abendmahl auch an seiner Brust lag. Ein weiteres Argument wäre vielleicht, dass er bei der Kreuzigung nicht fortlief wie die anderen Jünger, sondern mit Maria Magdalena und der Jesusmutter Maria unter dem Kreuz bei Jesus stand. Denn Kinder und Frauen mussten auch nicht fürchten, von den römischen Machthabern als Komplizen ans Kreuz genagelt zu werden.«
»Weshalb wird Johannes dann in der Bibel als Sohn des Fischers Zebedäus aus Betsaida eingeführt?«, fragte Gabriel skeptisch.
»Johannes erscheint nur in den synoptischen Zeugnissen als Sohn dieses Fischers Zebedäus, mehr kann ich dazu nicht sagen. Vielleicht war es ja sein Großvater, der Vater seiner Mutter. Doch Johannes war dem Alter nach das einzige Kind, das in Jesus Umfeld eine bevorzugte Stellung hatte. Schon allein die intime und vertraute Sonderstellung als ›Lieblingsjünger‹ übersteigt die allgemeine apostolische Autorität, die ihm als sein Jünger zustand.«
»Mit Zweifeln an den religiösen Überlieferungen müssen wir wohl leben«, gab sich Gabriel geschlagen.
»Das ist richtig. Denn die Bibel ist in erster Linie das Produkt des menschlichen Wortes, sie ist somit nicht das Buch der Worte, die uns keine Widersprüche und Zweifel mehr erlauben. Das war auch die Meinung meines Vaters. Hinzu kommt, dass Tatsachen oft verzerrt wiedergegeben oder wegen bestimmter Konventionen von frühen Redaktionen weggelassen worden sind.«
»Aber wie alt war Johannes, als er den Kreuzestod seines … äh … Vaters miterleben musste?«
»Der Apostel Johannes soll, wie gesagt, bis in die Regierungszeit Kaiser Trajans, die von 98 bis 117 n. Chr. dauerte, gelebt haben. Gemäß einer späten Überlieferung starb Johannes im dritten Jahr der Regierungszeit von Trajan, etwa im Jahr 101 n. Chr. in Ephesus. Wenn Johannes also um das Jahr 20 n. Chr. geboren wurde, war er bei der Kreuzigung seines Vaters im Jahr 30 oder 33 n. Chr. etwa 13 Jahre alt und somit immer noch bartlos.«
»Dann starb Johannes mit über 80 Jahren? Für damalige Verhältnisse ein sehr hohes Alter …«
»Ja, unterschiedliche Quellen bezeugen auch, dass er in außergewöhnlich hohem Alter gestorben
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